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FIRST PART

 

(Waschzwänge)

 

Bei dieser Gruppe von Störungen handelt es sich um Zustände, bei denen der potentielle oder effektiv erfolgte Kontakt, meist in Form einer Berührung mit bestimmten Substanzen, als Inbegriff des Übels erlebt wird. Diese Erkrankungen werden meist Waschzwänge" genannt, weil als Mittel gegen die Folgen einer Berührung häufig ein Waschen" im weitesten Sinne eingesetzt wird.

 

Wir beginnen mit einem Beispiel. Dann wollen wir, nach einem Exkurs über Ekel, ein kurzes Modell der Entstehung dieser Störung vorstellen. Schließlich beschäftigen wir uns mit der Therapie, wieder unter besonderer Berücksichti- gung von Expositionen.

 

BEISPIEL

 

Frau W., 22 Jahre

 

Der Anfang: „Es begann alles mit einer Spinne. Ich war damals ungefähr zehn

 

Jahre alt und besuchte meine Oma. Ich ging nie sehr gern dorthin, weil ihre Wohnung insgesamt einen bedrückenden Eindruck auf mich machte. Sie war nicht gerade verdreckt, aber sie war so vollgestopft mit altem Kram, dass man manchmal das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Es passierte vor der Wohnungstür. Gerade als ich läuten wollte, bemerkte ich eine Spinne, die auf dem Treppengeländer saß. Sie erschien mir riesig- sicher eine Täuschung

 

und ich bekam plötzlich das Gefühl, dass sie ganz schnell auf mich zukrab- belt, aber auch das wird letztlich bloß Einbildung gewesen sein. Zuerst bekam ich einen riesigen Schreck, dann fing ich an, mich furchtbar zu ekeln. Ich läutete Sturm, flüchtete mich in die Wohnung und wusch mir mehrmals die Hände und das Gesicht. Der Oma sagte ich nichts. Beim Verlassen des Hauses kamen mir das ganze Treppenhaus, der Flur und der Hauseingang ganz unheimlich vor. Ich machte mich ganz klein, um nirgendwo dranzukommen. Ich hielt die Augen fast geschlossen und wäre beinahe die Treppe heruntergefallen. Auf der Straße, wieder an der frischen Luft, wurde mir besser, und ich atmete tief durch.

 

Seitdem stellte ich mich an', wie ich es nannte. Ich meine damit, dass ich plötzlich Angst vor Bakterien und Ähnlichem hatte. Ich vermied es, so gut es ging, Häuser zu betreten, die einen verwahrlosten Eindruck machten und wollte

 

52

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschwänge)

zB auch kein Treppengeländer anfassen. Wenn ich in ein fremdes Haus gehen musste, schaute ich mir jedes Mal den Flur an, um sicherzugehen, dass dort nichts sei, was mich bedrohte. Niemand merkte etwas davon. Mit 16 war das alles verschwunden. Ich weiß auch nicht, wie und wodurch.

 

Ich war zum ersten Mal verliebt und lebte wie andere Teenager auch. Die Beziehung zu meinen Eltern war insgesamt gut. Meine Mutter wollte zwar immer etwas Besonderes aus mir machen und war oft sehr beunruhigt über die Gefahren, die mir, dem sensiblen Einzelkind, draußen drohen könn- ten. Sicher hat sie dadurch erreicht, dass ich sehr wählerisch bin, was meine Bekanntschaften anbelangt; aber das ist vielleicht auch gut.

 

Ich lernte mit 19 meinen ersten Freund kennen und wir zogen zusammen. Zuerst ging alles ganz gut. Doch nach zwei Jahren trennten wir uns, ich muss sagen auf eine sehr unschöne Art und Weise. Vieles dabei war so demütigend für mich, dass es heute noch weh tut, wenn ich daran denke. Meine Eltern, die nie hundertprozentig mit ihm einverstanden gewesen waren, unterstützen mich, und ich lebte allein weiter in der Wohnung.

 

In meinem täglichen Leben veränderte sich etwas. Ich fing an, mich in dem Haus unwohl zu fühlen. Ich fing auch an, die Menschen, die dort wohnten, mit misstrauischen Augen zu beobachten. Ich hielt auch im Flur und im Ein- gang Ausschau und bemerkte zuerst nichts Außergewöhnliches. Doch dann fielen mir langsam undefinierbare Flecken an den Wänden und auf dem Bo- den auf. Gerade zu der Zeit erzählte mir zufällig eine Nachbarin, sie habe frü- her einmal Tür an Tür mit einer ganz verwahrlosten und verwirrten alten Frau wohnen müssen, die mehrmals mit Kot und mit Urin beschmiert ange- troffen wurde. Das war nicht in unserem Haus gewesen, aber diese widerliche Erzählung schien doch einen Eindruck bei mir zu hinterlassen. Nun fing ich an, mich vor unserem Hauseingang zu ekeln, zumindest jedesmal dann, wenn ich die alten Flecken sah und glaubte, neue zu entdecken. Wenn ich etwas im Haus anfassen musste, schaffte ich das nur mit einem feuchten Lappen, den ich um die Hand wickelte und den ich immer bei mir trug."

 

Der Zustand spitzt sich zu. Sie spielte mit dem Gedanken, in eine neue Wohnung zu ziehen. Doch das war nicht einfach, und ihre Eltern zögerten noch, ihr Einverständnis zu geben. Eines Tages glaubte sie, einen leichten Uringeruch im Hause festzustellen. Von dem Tag an suchte sie fast verzweifelt nach der möglichen Quelle von Verunreinigung. Alle Gegenstände, die sie be- rührte, nachdem sie durch den Hauseingang in die Wohnung gelangt war, wischte sie feucht ab, auch wenn sie sich gleich nach dem Betreten der Woh- nung mehrmals die Hände gewaschen hatte. Alles im Haus, außer der eigenen

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

Wohnung, löste nun einen starken Ekel in ihr aus und sie kam von einem un- definierten Verseuchungsgedanken nicht los. So erschien ihr z.B. ihr Teppich verseucht. Ihr Teppich deshalb, weil etwas vom Keller und vom Häuserein- gang ins Treppenhaus und von dort in ihre Wohnung geschleppt worden war. Jedenfalls in meinen Gedanken", bemerkte sie noch etwas selbstkritisch. Nun war ein Punkt erreicht, wo sie das Ganze nicht mehr aushielt. Sie zog aus.

 

Sie bezog eine Wohnung, zur Sicherheit", in einer Nachbarstadt. An den Tagen vor dem Umzug (sie wollte dabei keine Hilfe von ihren Eltern) hatte sie in der ganzen alten Wohnung nasse Bettlaken auf den Boden gelegt und da- rauf alle Möbelstücke gestellt und mit einer Blumenspritze mehrmals ab- gesprüht. In der Nacht vor dem Umzug sprühte sie heimlich das ganze Trep- penhaus ab, weil die reinen" Möbel ja durchmussten. In der neuen Wohnung hoffte sie endlich zur Ruhe kommen zu können.

 

Die neue Wohnung. Anfangs war es auch wirklich besser. Aber nach einiger Zeit musste sie mit Entsetzen feststellen, dass sie ihre Krankheit in die neue Stadt mitgenommen hatte. Der alte Ort war für sie inzwischen ein absolut ver- seuchter Fleck Erde. Es konnte sein, dass alle Menschen, die dort wohnen, zufal lig den verseuchten Flur betreten, und „es“ dann überall weiterverbreitet haben. Wenn ihre Eltern, die noch in der alten Stadt wohnten, sie besuchten, mussten sie sich vor dem Betreten des Hauses einer für alle Beteiligten schmerzhaften Reinigungsprozedur unterziehen, worüber sie lieber schweigen möchte."

 

Zuerst hatte sie geglaubt, nun endlich in einem neuen, sauberen Städtchen zu wohnen, aber es war nur eine Illusion. Es kamen andere Ängste hinzu: „Ich kann doch nicht sicher sein, dass ich nicht vergessen habe, etwas vor dem Umzug zu reinigen. Einige meiner Einrichtungsgegenstände kommen mir diesbezüglich besonders verdächtig vor. Sie lösen manchmal wieder dieses unbeschreibliche Ekelgefühl aus, vor allem, wenn ich mich ohnehin schlecht fühle. Aber das ist nicht alles. Seit einigen Wochen erscheint mir durch eine Verkettung tragischer Umstände mein jetziger Flur' trotz aller Vorsichtsmaß- nahmen auch wieder verseucht, zumindest ist er nicht mehr einwandfrei..."

 

8.1

 

Beschreibung der Störung

 

8.1.1 Exkurs: Ekel

 

Keine Angst vor Ansteckung

 

Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen (Hoffmann, 1998a; Hoffmann und Hofmann, 2002), dass der zentrale Aspekt bei Waschzwängen Ekel ist und nicht, wie meist angenommen wird, Angst. Wir tendieren dazu, erst einmal an

 

Berührungovermeidungszwänge (Waschzwänge)

den Affekt Angst zu denken, weil wir dazu neigen, diesen Kranken automatisch als Ergebnis einer Berührung so etwas wie Angst vor Ansteckung und Krankhei- ten zu unterstellen. Dieses Muster gibt es auch, aber in der Mehrzahl der Fälle stehen die Vorstellungen solcher konkreten Gefahrenquellen nicht im Mittel- punkt.

 

Sekundäre Rationalisierungen. Bei anderen Patienten, die auf Nachfrage auch von Krankheitsängsten reden, handelt es sich um sekundäre Rationalisierung: Sie suchen nachträglich nach einer einigermaßen vernünftigen Erklärung für einen Widerwillen, der sich aus anderen dynamischen Quellen speist.

 

BEISPIEL

 

Suche nach einer Erklärung

 

Eine Patientin berichtet: „Ich weiß es noch ganz genau. Zuerst fühlte ich mich unrein, wenn ich bestimmte Menschen berührt hatte. Oder Dinge anfassen musste, die sie berührt hatten, wie Türklinken. Dann fragte ich mich, wo eine Gefahr herkommen könnte, und wusste nicht so recht weiter. Schließlich kam der Gedanke, sie könnten ja HIV-infiziert sein und dergleichen mehr. Ganz habe ich nie daran geglaubt. Aber es war erst einmal eine Erklärung für meine Abneigung, ja für meine starke Aversion vor Menschen, die bestimmte Merkmale aufwiesen. Mit dieser vermeintlichen Krankheitsangst konnte ich operieren. Keine Erklärung für mein Gefühl zu haben, wäre noch unheimli- cher gewesen."

 

Ekel bei Nichtzwangskranken

 

Ekel wird immer durch organische Stoffe hervorgerufen. Ekeln wir uns vor nichtorganischen Stoffen, dann nur, weil wir schmecken, riechen, spüren oder vermuten, dass etwas Lebendiges (oder etwas Lebendiges auf dem Weg der Ver- wesung) vorher mit ihnen in Kontakt gekommen und haftengeblieben ist.

 

In dem Moment, in dem der Ekel entstanden ist, überwältigt oder „packt" er den Menschen voll und ganz. Denn Ekel hat immer mit Ein-dringen (nicht wie bei Angst nur Be-drohung) zu tun. Grenzen werden beim Ekel überschritten (seelische Intimgrenzen, Körpergrenzen, Ich-Grenzen). Eine Invasion hat statt- gefunden, der ganze Mensch ist davon durchdrungen und vereinnahmt. Deshalb vermag das Bewusstsein nur schwer andere Empfindungen festzuhalten. Es folgt eine Reaktion, die stark mit Zorn versetzt ist und die Intention verfolgt, das Ekli- ge unmittelbar zu beseitigen. Eine der zentralen subjektiv erlebten Eigenschaften von Ekelerregendem ist, dass es haftenbleibt, ja das Gefühl allein, dass etwas an einem haftengeblieben ist, kann schon ein Vorstadium von Ekel auslösen, sogar

 

8.1 Beschreibung der Störung

dann, wenn wir nicht wissen, worum es sich handelt. Sartre (1943) spricht in seinem „Das Sein und das Nichts" vom Klebrigen, vom Glibbrigen und vom Glitschigen und meint, unser Widerwille dagegen sei nur dann verständlich, wenn wir an die „moralischen Qualitäten" denken, die assoziativ damit verbun- den sind.

 

Ekel bei Zwangskranken

 

Das Gefühl, dass Ekliges an Dingen, aber v.a. auch an unserem Körper und beson- ders an den Händen klebenbleibt, bietet Nahrung für die Gesetzmäßigkeiten" zwanghaften Denkens: Die „Ekelmaterie" ist durch Berührung endlos übertragbar und verliert auch in endloser Verdünnung" nicht ihr Ekelpotential. Damit wer- den auch die für den Zwangskranken naturgegebenen" Mittel deutlich, die geeig-

 

net sind, um Ekliges zu eliminieren. Es sind Waschen und Wischen.

 

Der Mensch als Überträger. In der Zwangserkrankung wird das Widerwillige und Angstmachende - im Gegensatz zum normalen Ekelgefühl - immer zuerst am menschlichen Körper getragen und von ihm etwa an Kleidung oder an ande- re Dinge weiterverbreitet. Auch wenn sich die Gedanken um Bakterien oder Viren drehen, so stehen doch Menschen im Vordergrund, die sie weitergeben, etwa an Geldscheine, Türklinken usw.

 

! Auch bei Ekel vor z.B. Hundekot ist nicht der primäre Kontakt des Kran- ken mit dem Kot das Schlimmste, sondern die Spur davon, die von einem Menschen weiterverbreitet oder von ihm selbst z.B. in die Wohnung ein- geschleppt wurde.

 

Ideelle" Substanzen. Bei Zwangskranken können auch ideelle" Substanzen

 

ein identisches Ekel- oder Gefahrenpotential erlangen wie materielle. „Todesma- terie" ist das, was an den Händen klebt, wenn sie eine Todesanzeige in der Zei- tung berührt haben. „Vateriges" ist das, was ein Paket verseucht hat, das der (früher invasive) Vater hätte anfassen können (Hoffmann, 1999).

 

Ekliges ist also eine direkte Emanation von Menschen: Ausscheidungen, Ab- sonderungen oder Schmutz, der an ihrem Körper oder an ihren Kleidern haftet. Zusätzlich gibt es andere eklige Stoffe, die sie verbreiten und mit denen sie die Welt des Kranken und ihre Heiligtümer der absoluten Reinheit" wie Bett, Wä- sche oder Schlafzimmer verseuchen.

 

Ekelempfindlichkeit. Die Emotion des Ekels ist von der emotionalen Dispositi

 

on „Ekelempfindlichkeit" abzugrenzen, die die zeitlich überdauernde Neigung einer Person beschreibt, mit Ekel zu reagieren. Ausgehend von dem allgemeinen Konzept der emotionalen Reaktivität kann vorhergesagt werden, dass Individuen mit einer erhöhten Ekelempfindlichkeit leichter provozierbare, intensivere und

 

68 Berührungvermeidungszwänge (Waschzwänge)

länger andauernde Ekelreaktionen zeigen. Schienle et al. (2002) haben einen Fragebogen zur Erfassung der habituellen Ekelempfindlichkeit (FEE) kon- struiert. Die Beschreibungen effektiver Ekelreaktionen sind fünf faktorenanalyti- schen Teilen und Aspekten der Ekelempfindlichkeit zuzuordnen, die durch die Begriffe Tod", „Körperausscheidungen", Verdorbenes", Hygiene“ und „orale Abwehr" inhaltlich gekennzeichnet sind.

 

Wie können wir uns nun erklären, wie und wodurch Ekel, oft einhergehend mit Angst, schleichend oder ganz plötzlich in das Leben der Kranken einbricht.

 

Zur Genese von Berührungsvermeidungszwängen

 

Eine phänomenologische Betrachtung der Entstehung einer solchen Störung, dh. eine Betrachtung, die vom Erleben der Betroffenen ausgeht, zeigt eine Reihe von charakteristischen Phasen auf (Hoffmann, 1998a und b; Hofmann und Hoffmann, 1998; Hoffmann und Hofmann, 2002).

 

(1) Konfusion und Implosion der Gefühle

 

Beginn. Am Anfang der Erkrankung stehen in der Regel Ereignisse oder Ent- wicklungen, die mit starken Emotionen einhergehen. Die am häufigsten genann- ten sind Schmerz, Trauer, Einsamkeit, Angst, Ekel und Wut. Alle Betroffenen betonen die Intensität ihres affektiven Erlebens und ein weiteres Merkmal, das man mit „Konfusion der Gefühle" umschreiben kann. „Ich wusste nicht, ob ich Angst hatte oder maẞlos wütend war. Da nahm der Ekel wieder überhand und gleichzeitig fühlte ich mich von aller Welt verlassen", berichtet die 18-jährige Patientin, die Ekel vor Silberfischen hat (s. 6.3.2). Ein anderer Patient schildert: Ich habe mich plötzlich wie ein kleines verlassenes Kind gefühlt und die Hand der Mutter gesucht. Alles war zusammengebrochen und ich habe weder ein noch aus gewusst."

 

Kein Ausdruck der Gefühle. Doch wie weiter von den Patienten berichtet wird, bleiben diese heftigen emotionalen Aufwallungen in ihnen stecken". Damit ist ein weiteres Charakteristikum ihrer emotionalen Lage angesprochen. Gefühle müssen durch adäquates Verhalten ausgedrückt werden, z.B. durch

 

Weinen bei Trauer, wenn sie zur vollen Entfaltung kommen sollen. Ist der Aus-

 

druck auf Grund innerer oder äußerer Bedingungen nicht möglich, so kommt es zu einer Implosion der Gefühle. Grenzverletzungen. Betrachten wir die auslösenden Ereignisse, so enthalten sie häufig invasive Momente, bei denen auch Grenzen der persönlichen Intimität

 

überschritten werden, Gefahren oder Tod Verheißendes, Ekliges oder grob Ver-

 

8.1 Beschreibung der Störung

letzendes etabliert sich allmählich im eigenen Leben oder bricht ganz plötzlich ein. Die Reaktionen darauf sind zwar vehement, bleiben aber diffus, und das Grundgefühl ist Demütigung, einhergehend mit Hilflosigkeit und Ohnmacht.

 

(2) Unvollständigkeitsgefühl, Positionsunsicherheit und Kontrollbedürfnis In dieser Phase finden die Menschen keine Position zu dem Geschehen, weil sie keinen Zugang zu den eigenen Bedürfnissen mehr haben. Dadurch erlangen sie keine kohärente Einstellung zu den Eindringlingen" oder zu den erlittenen Verletzungen. Stattdessen erleben sie eine Art Desintegration des Selbst.

 

BEISPIEL

 

Frau W. berichtet über ihre Reaktionen auf den Bruch mit ihrem Freund: Ich verstand lange Zeit nicht, was mir widerfahren war. Ich war so gedemü- tigt und verletzt worden, konnte aber keine innere Energie mobilisieren, um mich zur Wehr zu setzen oder um mich wieder selbst zu finden. Alles war so anders geworden, auch die Dinge des täglichen Lebens. Mein Zustand war ungefähr so: Ich war wie eine Hülle, die herumläuft, ein Roboter; mein Selbst war so klein, ich spürte mich gar nicht richtig. Mir war so, als würde ein ganz großes Stück von mir fehlen".

 

Um das Unvollständigkeitsgefühl, die Depersonalisations- und Derealisations- empfindungen unter Kontrolle zu bringen, um ein Mindestmaß an Vertrautheit und innerer Sicherheit wiederzugewinnen, suchen die Patienten Halt und versu- chen in irgendeiner Form wieder Kontrolle auszuüben.

 

(3) Symbolbildung und externale Regulation

 

Nun kommt es zu einer Entwicklung, die das Charakteristische an diesen Er- krankungen ist: Erfahrungen wie Demütigung durch andere, Angst vor anderen oder die eigene Verletzlichkeit, gehen gewissermaßen einen Prozess der Verdich- tung und der Materialisierung ein.

 

Symbole statt Realität. Statt dass die Gesamtsituation im Auge behalten wird und es dadurch zu einer lösungsorientierten Verarbeitung der Gegebenheiten kommen kann, treten Details der Außenwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie werden zu Symbolen oder zu subjektiven Chiffren für die schmerzhaften Empfindungen, die im Inneren vorherrschen. Signale, die bislang unerheblich waren, treten in der Wahrnehmung derart hervor und erhalten einen dermaßen bedrohlichen Angst oder Ekel erregenden Charakter, dass sie zunehmend das ganze Bewusstsein beherrschen. Sie waren nie angenehm, weil sie eher für Krankheit, Übel, Gefahren und Ähnliches stehen, aber für Nichtkranke haben sie im täglichen Leben auch nicht annähernd die Bedeutung, die sie für diese haben.

 

158

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

So werden Substanzen, wie Kot und Urin, die Menschen in Häusereingänge effektiv verbreiten oder zumindest verbreiten könnten, zum Inbegriff des Ekli- gen, von dem darüber hinaus eine unbestimmte Unheildrohung ausgeht. Von nun an sind sie nach den „Gesetzen des Zwanges" in die eigene privateste Sphäre einschleppbar, und dieser Prozess kann nur durch einen permanenten Abwehr- kampf, und um den Preis einer permanenten Unruhe einigermaßen verhindert oder zumindest aufgehalten werden.

 

Die reine Innen- und die böse Außenwelt. Bei unserer Patientin Frau W. ist auch die Wahl" des Hauseinganges als zentrales Element im Zwangssystem aufschlussreich, stellt er doch den natürlichen Übergang zwischen der eigenen, reinen und rein zu haltenden Welt und der dreckigen, gefahrvollen und invasi- ven Welt der anderen" dar.

 

Damit ist das Böse sozusagen dingfest gemacht und dadurch wird die Welt wieder etwas pseudoüberschaubarer und pseudosicherer: Durch die Kontrolle der äußeren Gefahrenmomente (nicht berühren, waschen, reinigen, abspritzen usw.) kann kurzfristig eine Pseudokontrolle der Innenwelt erreicht werden. Die Dramen des Lebens werden nicht mehr ausschließlich im realen Leben, d.h. auf der Hauptbühne ausgefochten. Es ist eine Nebenbühne dazugekommen, auf der nach bizarren und für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Regeln

 

künstliche einfache „Puppentheaterstücke“ gespielt werden, die eine Art Karika- tur der wirklichen Abläufe darstellen. Aber es ist eben nicht wirklich, und des- halb ist das Problem nicht behoben, auf diesem Weg auch nicht behebbar. Des- halb kann es auf dieser Bühne nach und nach zu einer Signalinflation kommen. Immer mehr Alltägliches oder leicht Anrüchiges wird zur Quelle des Übels er- klärt und nach den bekannten Regeln bekämpft. Am Anfang dieser Entwicklung stehen oft belanglose Alltagsepisoden. So kamen bei unserer Patientin als Ekel- und Gefahrenmomente zu den „Exkrementen im Hausflur" nach und nach hin- zu: Hundekot, den verwerfliche Menschen einschleppen; Bakterien und Viren, die permanent von ihnen ausgehen und schließlich Radioaktivität, die von ihren Uhren und Weckern ausstrahlen. Die Signalinflation führt dann zu einer Alarm- inflation. Es gibt dann bald keine ruhige Minute mehr.

 

(4) Aktivierung einfacher bis archaischer" Abwehrmaßnahmen

 

Externale Regulationsform. Glücklicherweise, ist man versucht zu sagen, gibt es für die Kranken einfache Regeln, die im Umgang mit den materialisierten zwanghaften Ideen und Vorstellungen eingehalten werden müssen. Patienten im Zwangsbereich fallen auf eine sehr niedrige Regulationsebene menschlicher Handelns zurück. Die innere Regulation (Denken als Probehandeln auf der Basi eines mentalen Modells) fällt weg, die niedrigste Regulationsstufe, die von offen

 

8.1 Beschreibung der Störun

sichtlichen Merkmalen der Außenwelt abhängig ist, gewinnt an Bedeutung. Es ist dies die externale Regulationsform. Rückmeldungen werden immer aus den sichtbaren Effekten abgeleitet, die das Selbst in der Außenwelt hergestellt hat (Hofmann & Hoffmann, 1998).

 

So geschieht das Entfernen von gefährlichen Substanzen sinnvollerweise durch deren Abwischen und Abwaschen. Ein Gegenstand ist erst dann wieder in Ordnung, wenn ich ihn abgewischt habe; meine Hand ist für kurze Zeit dann wieder rein, wenn ich sie gewaschen habe. So entstehen nach und nach Verhal- tensgrundmuster und Häufungen von bestimmten Verhaltensweisen, die sich zu einem großen Teil verstehen lassen, wenn man sie wieder im Zusammenhang mit unserem stammesgeschichtlichen Erbe bringt. Sie weisen dann eine Zugehö rigkeit zu bestimmten Funktionskreisen von Instinkten auf, die Urformen der Umweltanpassung darstellen (Süllwold et al., 2001).

 

8.2

 

Kritische Anmerkungen zu Therapien bei Waschzwängen

 

Bevor wir unseren Ansatz vorstellen, wollen wir auf einige therapeutische Vor- gehensweisen hinweisen, die uns auf Grund der Struktur der Störung problema- tisch erscheinen.

 

8.2.1 Widerlegungsversuche negativer Erwartungen als zentrale Maßnahme

 

Implizit wird dabei davon ausgegangen, dass es immer die Erwartungen konkreter Gefahren sind, die das Abwehrverhalten aufrechterhalten und damit eine „Neutrali- sierung der mit Gefahren assoziierten Reizen verhindern. Als zentrale heilsame Erfahrung, die Patienten während und nach der Exposition machen sollen, wird also konsequenterweise die Widerlegung von Katastrophenerwartungen angesehen.

 

Keine Erwartungen von Katastrophen. Doch bei vielen Zwangsstörungen, auch vom Typus der Berührungsvermeidungszwängen, spielt die Erwartung von Kata- strophen, wie Erkrankung, Vergiftung, Ansteckung usw. überhaupt keine Rolle. Es geht dann auch nicht um Sorgen um die eigene Gesundheit, um Hygiene oder Ähnliches, sondern um Reinheit, Unversehrtheit und Unbeflecktheit im weites- ten Sinne. In solchen Fällen ist es daher völlig sinnlos, über Ansteckungswahr scheinlichkeiten und dergleichen zu debattieren.

 

In anderen Fällen mag ein Patient z.B. die Vorstellung haben, dass, wenn er et-

 

was berührt, das mit Tod zu tun hat, dies etwas Negatives für seine Zukunft oder

 

8 Berührungsvermeidungszwange (Waschwänge)

für die einer geliebten Person haben könnte. Eine solche Befürchtung ist von niedrigen Konkretheitsgrad und von einer so großen zeitlichen Unbe- stimmtheit geprägt, dass eine Widerlegung durch das Nichteintreffen befürchte- einem so ter Konsequenzen grundsätzlich ausgeschlossen ist.

 

8.2.2 Arbeit mit isolierten Substanzen und ,,künstlichen" Situationen bei Expositionen

 

Der Patient, bei dem „Katzenstreu" eine zentrale Rolle spielte (s. 6.3.4), wurde

 

während eines stationären Aufenthaltes folgender Prozedur unterzogen: Er sitzt zwei Stunden aufrecht im Baderaum auf einer psychiatrischen Station, beide Arme bis zu den Ellbogen in zwei Säcken mit Katzenstreu, und er hat die Aufgabe, a zu,,habituieren".

 

Wie es ihm dabei ging, schildert er wir folgt: „Nun saß ich da und dachte mir, na gut, da musst du durch. Obwohl mir das Zeug verdammt unsympathisch war und auch ein bisschen ekelig vorkam - 1-es juckte geradezu -, war es auszuhalten. Ich dachte bloß, hoffentlich kommt niemand herein, die müssten mich ja für bescheuert halten. Angst hatte ich nicht, schon gar nicht vor Krebs. Ich bin ja hier bei Ärzten, die sind da, um zu heilen, und nicht, um mich in Lebensgefahr zu bringen. Außerdem ist dieses Katzenstreu hier sicher ein anderes, als das, womit damals (vor drei Jahren) die widerliche Katze meiner ehemaligen Freun- din verseucht wurde. Ich fing an, mich total zu langweilen und dachte, hoffent- lich ist bald alles vorbei." Was ist nun falsch an einer solchen Prozedur?

 

Gewöhnung an die Substanz. Die zentrale Annahme dabei ist, dass sich die Probleme der Patienten dadurch lösen ließen, dass eine Gewöhnung an eine Angst erzeugende Substanz herbeigeführt werden soll. Von diesem Effekt erwar- tet man dann, dass er auf die natürlichen Situationen des Patienten, wie seinen Umgang mit verseuchten" Wohnungsteilen, mit ihm eklig vorkommenden Menschen usw. generalisiert. Nun müssen wir mit großer Regelmäßigkeit fest-

 

stellen, dass das nicht funktioniert. Warum nicht?

 

Semantisches Netz. Damit ein bedeutender und dauerhafter Lerneffekt stattfin- den kann, müssen die Lernsituationen, d.h. die Expositonssituationen, solche sein, die eine wichtige Rolle im semantischen Netz des Patienten spielen. Es geht also dabei um persönlich bedeutsame Situationen aus deren gegenwärtigen oder vergangenen Leben, die zum autobiografischen Wissensbestand" gehören. Sie enthalten stabile, stark mit Emotionen versetzte Kodierungen (so genannte au- tobiografische Einkerbungen), und an diesen Stellen muss eine Überwindung der Angst und der Aversion vor der kritischen Situation stattfinden.

 

8.2 Kritische Anmerkungen zu Therapien bei Waschzwängen

Der Mensch als „Träger" der Substanzen. Es ist ebenfalls zu beachten, dass es in den kritischen Situationen für Patienten auch immer um die Auseinanderset- zung mit Menschen geht. Sie sind Träger" der gefürchteten Substrate, und um sie dreht sich letzten Endes das ganze Zwangssystem. Die Arbeit mit isolierten Substanzen allein, ohne die Kontexte, in die sie eingebettet sind und mit denen sie zusammen im Gedächtnis gespeichert sind, auch wenn sie vordergründig noch so sehr im Mittelpunkt der Befürchtungen und der Aversionen stehen, trifft also nie den historisch-biografischen Kern einer Zwangserkrankung und ist

 

daher weitgehend wertlos. Wie Expositionen vorbereitet und herbeigeführt werden können, die im per- sönlichen emotionalen und kognitiven Mittelpunkt der Störung ansetzen, wollen wir nun schildern.

 

8.3

 

Gesamttherapieplan bei Berührungs- vermeidungszwängen (Waschzwänge)

 

Im Folgenden geben wir einen Überblick über die einzelnen Schritte des Thera- pieablaufs. Die ersten Interventionen haben mehr diagnostischen Charakter, dienen aber auch schon der Auseinandersetzung mit dem Zwang.

 

Die in der folgenden Aufzählung mit * hervorgehobenen Punkte werden im Anschluss ausführlich behandelt.

 

Überblick

 

Analyse des Zwangssystems* Analyse der aktuellen Lebensumstände und der Umstände bei der Entste-

 

hung der Erkrankung

 

Erörterung von Perspektiven nach dem Zwang" und Erläuterung der Therapie

 

Gemeinsame Exploration des Zwanges in vivo* Aufhebung von Denkverboten, Konkretisierung des Zwangssystems

 

Maßnahmen zur Distanzierung vom Zwang

 

Erweiterung des inneren und äußeren Probierraumes durch Verhaltens- experimente

 

â–¸ Tolerierung und Bewältigung von zwanghaften Gedanken und Emotio-

 

nen*

 

Festlegung von Anlass, Häufigkeit und Dauer von normalen Waschvor- gängen; nötig dazu: Training auf der Ebene von natürlichen organischen Bewegungsabläufen beim Waschen*

 

Berührungsvermeidungszwinge (Waschzwänge)

Durchführung rung Überwindung Expositionen nach dem Modell der Subjektkonstituie- von Ekelreaktionen"

 

von

 

Evozierung inkompatibler Reaktionen (Trotz, Auflehnung), intensive begleitende kognitive Arbeit bei den Expositionen Umgang mit intensiven Gefühlen*

 

Aktivierung eigener Wünsche und Bedürfnisse bei Expositionen Analyse und Bearbeitung eventueller intrapsychischer und interpersoneller

 

Funktionalitäten

 

Arbeit mit Angehörigen

 

8.3.1 Analyse des Zwangssystems

 

Bei Waschzwängen sind die gleichen Informationen von Bedeutung, wie wir sie für die Kontrollzwänge aufgezählt haben. Die Struktur der Störung (Bedro- hung/Abwehr) ist identisch. Die spezifischen subjektiven Elemente der Bedro- hung (Ekelmaterie, Schmutz, Ansteckendes usw.) verlangen lediglich Abwehr- maßnahmen, bei denen, neben der passiven Vermeidung, eine Eliminierung der aversiven Stoffe, hauptsächlich durch Waschen und Abwischen, im Vordergrund stehen.

 

Daneben sind für Waschzwänge folgende Informationen von großer Wichtig- keit (Hoffmann, 2000a).

 

Fragenkatalog zur Analyse von Waschzwängen

 

Wie erlebt der Patient seinen Zwang und welches ist sein Krankheitsmodell? Wie groß ist seine innere Distanz zu Zwangsgedanken und Zwangsbefürch-

 

tungen? â–¸ Erlebt er sie als (ich-dystone) Anzeichen einer Krankheit oder aber als Warn-

 

zeichen vor Gefahren, von denen er real betroffen ist (überwertige Ideen)? Zicht er aus seinen Zwangssymptomen negative Schlussfolgerungen über die eigene Person, die u. a. eine depressive Verstimmung mit sich bringen kön- nen?

 

Lassen sich kognitive Defizite wie Defizite des Handlungsgedächtnisses oder eine Schwächung der Realitätsfunktion (z.B. mangelnde mentale Synthesefä- higkeit, Unvollständigkeitsempfindungen) auffinden, die eine Rolle beim Zu- standekommen des zwanghaften Erlebens und Verhaltens spielen?

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

BEISPIEL

 

Das Zwangssystem von einer Studentin der Altphilologie verlangt beim Ler- nen folgende Wiedergutmachungen". Jedes Mal, wenn sie eine Vokabel nicht weiß, muss sie sich gleich anschließend die Hände waschen. Wenn sie wäh- rend einer Lernphase 5 Vokabeln nicht gewusst hat, muss sie zusätzlich du- schen, um sich von der Schuld" reinzuwaschen. Beim Duschen ist ihr Erle- ben meist so diffus, dass sie anschließend auf ihrem Arbeitsplatz nicht mehr ganz sicher ist, ob sie wirklich schon geduscht hat oder nur vorhatte, es zu tun, und es in Wirklichkeit noch nicht getan hat. Um ein Gefühl der Sicher- heit herzustellen, versucht sie zuerst, die Abläufe zu rekonstruieren: Wie bin ich von meinem Platz aufgestanden, was habe ich dabei gedacht, kann ich mich erinnern, die Badezimmertür vor mir gesehen zu haben?" usw. Da das selten hilft, geht sie ins Bad und hält nach Wasserspritzern auf dem Boden Ausschau. Dann fühlt sie, ob ihr Handtuch feucht ist. Wenn sie findet, dass es feucht genug ist, ist sie zuerst etwas beruhigt und fährt mit dem Lernen fort. Da taucht plötzlich der Gedanke auf, ihr Bruder hätte unbemerkt ins Haus kommen können, um zu duschen. Dann hätte er das Handtuch benutzt haben können. Soll sie ihn unter einem Vorwand anrufen, um zu klären, ob er...?

 

Lassen sich beim Patienten Behauptungen, Ansichten oder vermeintliche Moralvorschriften feststellen, die das Zwangssystem rechtfertigen? Zum Bei- spiel: Heutzutage sind alle Lebensmittel vergiftet, man sagt uns allen blog nicht die Wahrheit".

 

â–¸ Spielen ideelle Substanzen" wie „Todesmaterie" (z.B. der gedachte Stoff, der von jemandem übertragen werden kann, der in letzter Zeit einen Todesfall in der Familie hatte oder „Vateriges", z.B. ein angenommenes Substrat, das an den Dingen haftet, die vom Vater berührt worden sind) eine Rolle im Zwangssystem?

 

Ist die Patientin mit Fragen beschäftigt, die objektiv gesehen gegenstandslos

 

sind, und die darüber hinaus grundsätzlich nicht zu beantworten sind?

 

BEISPIEL

 

Eine Patientin, die in einer Wohngemeinschaft lebt: Es war, glaube ich, vor der Dusche. Ich war unbekleidet, bin mit meinem Bein an etwas drangekommen. Vielleicht bin ich an den Bademantel von Eva drangekommen und ausgerechnet vielleicht an den Ärmel. Vielleicht bin ich auch an ihr Handtuch drangekommen. Es hängt an der Wand, im Winkel von 90 Grad von der Wand, an der der Bademantel hängt. Da ich noch nicht ge-

 

Berührungvermeidungszwinge (Waschzwänge)

waschen war, frage ich mich, ob und in welchem Ausmaß ich ihr schaden kann, wenn ich an den Bademantel oder an das Handtuch herangekommen bin. Soll ich die Sachen für sie waschen? Soll ich sie warnen? Kann ich über- haupt noch da wohnen bleiben, wenn ich ständig andere gefährde?"

 

â–¸ Welche Vorstellung hat der Patient vom Verhalten anderer nichtzwangskran- ker Menschen in bestimmten Situationen? So fragt ein Patient: Haben nicht alle Ausgehzigaretten"?" und meint damit eine Schachtel, die dem Schmutz der Welt" ausgesetzt wird, aber dann nicht

 

in die eigene Wohnung mitgebracht, sondern in einem eigenen Kästchen vor

 

der Haustür aufbewahrt wird.

 

Wie konkret kann er sich sein eigenes Verhalten, das nicht von den Regeln des Zwangs diktiert wird, überhaupt vorstellen? Kann er ein Gefühl dafür entwickeln?

 

8.3.2 Gemeinsame Exploration des Zwanges in vivo

 

In dieser Phase der Therapie dienen die Expositionen vorwiegend der Explorati- on des Zwanges; zugleich haben sie therapeutische Wirkung dahingehend, dass der Erfahrungsraum des Patienten erweitert wird.

 

Vorbereitung

 

Bei der Auswahl der Expositionssituationen haben die Patienten volles Mitspra- cherecht. Die Situationen sollen kritisch, d.h. den Zwang aktivierend sein, aber so gewählt werden, dass sie es sich in ihrer momentanen Verfassung zutrauen, die Situation aufzusuchen.

 

Wie wir schon betont haben, ist es wichtig, dass die Situationen eine persönli- che Bedeutung für die Patientin haben und sozusagen mitten aus ihrem gegen- wärtigen oder vergangenen Leben herausgegriffen sind. Die Erkundung findet erst einmal in Begleitung des Therapeuten statt, die Patientin behält aber über den ganzen Verlauf der Übung die Kontrolle. Es wird so vorgegangen, wie sie es sich wünscht, sie darf jederzeit abbrechen und sich so verhalten, wie sie dazu in der Lage ist, ohne dass Druck auf sie ausgeübt wird. Der Therapeut erläutert, der Sinn der Übung sei, den Zwang sozusagen am Werk" noch besser kennen zu lernen, sich selbst und andere zu beobachten und sich eventuell erste neue Ge- danken über die ganze Situation zu machen. Der Therapeut stellt Fragen zu ih- rem Erleben und über die Beweggründe ihres Verhaltens.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

Durchführung

 

Die Durchführung soll am Beispiel der Patientin Frau W. erläutert werden. Für sie wird als Situation der Besuch eines Supermarktes ausgewählt. Er stellt insofern ein Problem für die Patientin dar, weil sie weiß, dass dort ein Ehepaar einkauft, das aus beruflichen Gründen die Hälfte der Woche in der „total ver- seuchten Stadt" verbringt, aus der sie kommt.

 

TRANSKRIPT

 

In-vivo-Exposition mit Frau W.

 

Patientin und Therapeut stehen vor dem Supermarkt.

 

T: Wie ist Ihnen jetzt zumute? P: Ich bin sehr angespannt. So wie vor einer Prüfung. Ich weiß nicht, was

 

mich erwartet.

 

T: Nichts, was Sie nicht verkraften könnten. Wir werden ganz

 

behutsam

 

hen. Sehen Sie sich doch einfach einmal die Eingangstür an. Wie ist das für Sie? P: Ich sehe vor allem den Türgriff.

 

T: Was ist damit?

 

P: Ich muss daran denken, wer ihn alles schon angefasst hat. T: Dazu ist er in gewissem Sinne ja auch da!

 

P: Ich weiß, so sehen das wohl die meisten Menschen.

 

T: Sie nicht?

 

P: Nein, leider nicht.

 

T: Haben Sie „leider" gesagt? Das finde ich gut. P: Ja, aber ich bin da sehr im Zwiespalt.

 

T: Ja, wir haben ja lange Zeit darüber geredet, einerseits - andererseits. Das

 

wird noch eine Zeit lang so weitergehen. T: Denken Sie auch an jemanden Besonderes, wenn Sie den Türgriff sehen?

 

P: Ja, ich weiß.

 

P: Sie wissen es doch. Zwangsläufig denke ich an Herrn und Frau Müller, ih-

 

retwegen sind wir ja hier. T: Nicht nur ihretwegen. Aber wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Müllers

 

denken?

 

P: Jetzt kommt ein so unheimliches Gefühl in mir hoch. Alles zieht sich in mir zusammen. Der Türgriff ist jetzt so abstoßend. Es wäre jetzt ganz schlimm, ihn anfassen zu müssen. Meine Hand käme mir so dreckig, so eklig vor. Muss

 

ich ihn jetzt berühren?

 

T: Nein, Sie müssen es nicht, wenn Sie es nicht wollen. Sie werden nur das berühren, wozu Sie sich schon in der Lage fühlen. Aber eines Tages werden Sie ihn anfassen. Aber bleiben wir doch bei Herrn und Frau Müller. Was sind

 

das eigentlich für Menschen?

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

 

P. Also, eigentlich sind sie ganz nett, vor allem Frau Müller. Aber jetzt habe ich solche Angst vor ihnen. Ich ekle mich geradezu. Ist das nicht schrecklich? Eigentlich müsste ich mich schämen.

 

T: Was finden Sie nett an ihnen? P: Alles mögliche. Es sind einfach unkomplizierte und sympathische Men- schen. Sie können ja nichts dafür, dass ich das alles erleben muss.

 

T: Warum müssen Sie das alles erleben? P: Ich weiß jetzt die Antwort. Seit ich krank bin, aber das ist so schwer zu ak- zeptieren. Ich denke noch immer manchmal, dass ich im Grunde

 

Recht habe, aber seit ich bei Ihnen bin, immer weniger.

 

genommen

 

T: Bleiben wir bei den Müllers. Einerseits finden Sie sie nett, andererseits ha-

 

ben Sie Angst vor ihnen. Was ist da los? P: Es wäre schrecklich, ihnen über den Weg zu laufen. Es ist ungerecht, aber

 

es wäre schrecklich.

 

T: Warum genau?

 

P. Ich traue mich nicht, es auszusprechen. Sie sind... (weint)

 

T: Was sind sie?

 

T: Ich helfe Ihnen. Sie empfinden es jetzt so, als seien sie richtiggehend ver- seucht. Ist es so?

 

T: Sie brauchen sich nicht zu schämen. Ich kenne die Zwangskrankheit sehr

 

gut und weiß, wie sie die natürlichen Gefühle von Menschen überlagern und

 

verdecken kann. Aber darunter bleiben die intakt und werden wieder zum

 

Vorschein kommen. Dann werden Sie alles wieder ganz anders erleben. Aber

 

das ist noch ein weiter Weg, und wir sind hier, um an dieser Misere zu arbei-

 

ten. Wollen wir hineingehen?

 

P: Ja, aber die Tür...

 

T: Soll ich sie für Sie öffnen?

 

P: Würden Sie das tun?

 

T: Aber ja, kommen Sie. (gehen zur Tür) Wie geht es Ihnen jetzt? P: Ich bin ein bisschen durcheinander. T: Lassen Sie sich Zeit. Wir wollen das alles ganz ruhig angehen.

 

Für den Therapeuten liefert eine solche In-vivo-Exposition wertvolle Informati- nen über das Zwangssystem, über die innere Haltung des Patienten dazu, über ine Copings und Ressourcen und über seine Eigenarten als Person.

SECOND PART

Der Patient lernt, Zusammenhänge besser zu verstehen. Dadurch erhält er ne ganzheitliche statt eine detailorientierte Sichtweise. Sie ist die Voraussetzung reine zunehmende Externalisierung des gesamten zwanghaften Fremdsteue-

 

83 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschwänge)

 

Fragen über Sinn und rungssystems und einer zunehmenden, darauf aufbauenden Selbstsicherheit. Er lernt es, Dinge mit neuen Augen zu sehen und sich neue I Zweck seines Tuns zu stellen. Außerdem werden normale" Wünsche und An- sichten aktiviert, die ihn die Dinge von einer anderen Seite erleben lassen, Im Folgenden möchten wir typische Fragen und Interventionen in dieser Phase der Therapie wiedergeben.

 

Typische Fragen und Interventionen des Therapeuten â–ºWie fühlen Sie sich? Was ist das für ein Gefühl? Kennen Sie es aus anderen Situationen oder a anderen Zeiten? Beschreiben Sie es doch einmal? aus

 

Wie ist das für Sie? Was geht Ihnen dabei durch den Kopf? Was möchten Sie jetzt am liebsten tun? Warum tun Sie es nicht?

 

Was haben Sie früher in einer solchen Situation getan? Warum tun Sie es jetzt nicht? Können Sie sich vorstellen, es wieder zu tun? Haben Sie eine Idee, warum das so ist? Könnte es auch anders sein, und wenn ja, wie?

 

Erklären Sie mir doch ganz genau, warum Sie das jetzt so gemacht haben.

 

Wissen Sie genau, ob das so ist? Wenn ja, woher wissen Sie es? Wenn nein,

 

was können Sie tun, um es herauszufinden? Sie sagen, das kann ich nicht. Woran merken Sie, dass Sie es nicht tun kön nen?

 

Was müsste anders sein, damit Sie es tun können?

 

â–¸ Ist das nun so oder so? Bitte entscheiden Sie sich. Was haben die beiden Situationen gemeinsam, was ist anders?

 

Was würde Ihnen schwerer fallen/leichter vorkommen, dieses oder jenes?

 

Warum?

 

Was halten Sie von diesem Gedanken?

 

Haben Sie schon einmal versucht, etwas gegen den Gedanken zu unter- nehmen? Wenn nein, warum nicht? Könnten Sie jetzt etwas dagegen tun, und wenn ja, was?

 

Haben Sie in einer ähnlichen Situation schon einmal anders gedacht? Was ist Ihnen aufgefallen? Wie erklären Sie sich das?

 

Was halten Sie von alledem? Sie haben jetzt diesen Menschen beobachtet. Beschreiben Sie mir doch sein

 

Verhalten. Was halten Sie von ihm, wenn er sich so verhält?

 

Warum ist das bei ihm so und bei Ihnen anders?

 

Meinen Sie, dass es bei Ihnen immer so sein muss? Was müsste passieren, damit es anders ist? Was könnten Sie dazu tun?

 

= 8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

 

Was bedeutet es, wenn man einen solchen Gedanken hat? Was wird da- durch ausgesagt?

 

4 Was ist schlimm daran, wenn man einen solchen Gedanken hat? Hilft Ihnen dieser Gedanke in diesem Moment? Wenn ja, wodurch? Wenn nein, könnten Sie sich vorstellen, ihn erst einmal beiseite zu legen?

 

Sie beschreiben mir ein bestimmtes Gefühl. Was fällt Ihnen dazu ein? Was heißt es, wenn man ein bestimmtes Gefühl hat? Was wissen wir da- rüber?

 

Wie fühlen Sie sich hier mit mir? Was finden Sie gut, und was finden Sie nicht so gut? Soll ich etwas anders machen? Kann ich etwas tun, was Ihnen weiterhilft?

 

Habe ich etwas getan, was Sie gestört hat/das Ihnen weitergeholfen hat/womit Sie nichts anfangen können?

 

Nachbereitung

 

Die Patientin erhält ausführlich Gelegenheit, ihre Eindrücke zu schildern, und das herauszustellen, was ihr wichtig erschien. Sie wird noch einmal nach ihrem Befin- den, ihren Schwankungen und nach den Schlussfolgerungen aus ihrem Leben be- fragt. Dann zeigt der Therapeut das Wichtigste aus seiner Sicht auf, gibt einen Aus- blick auf die nächsten Übungen und deren Zusammenhänge mit den vergangenen.

 

Exkurs: Erläuterungen in der Phase der Exploration Es kann sein, dass der Patient schon in dieser Phase der Therapie vom Therapeu- ten Erläuterungen zu seinen Zwängen haben will. Er steht dann meist im Span- nungsfeld zwischen den Versuchen, sein Verhalten vor sich und vor anderen zu begründen und zu rationalisieren und der beginnenden Einsicht, dass etwas mit mir nicht stimmt". Um diese Tendenz zu unterstützen, kann es zu ersten thera- peutischen Interventionen kommen, bei denen die innere Distanz des Patienten zu seinen Befürchtungen und zu seinem Zwangshandeln vergrößert werden soll.

 

TRANSKRIPT

 

Intervention zur Herstellung von Distanz zum Zwang in der

 

Explorationsphase

 

P: Ist das normal, dass man sich die Hände wäscht, wenn man in die eigene Wohnung geht? Ich könnte das nicht aushalten ohne. Auch dass ich die Türklinken nicht richtig anfasse, aber da kann ja sonst was dran sein. Ich setze mich auch nicht auf jeden Sitzplatz im Bus, wahrscheinlich ist das ja Quatsch. T: Na ja, der Zwang hat schon seine Argumente, um Ihnen klarzumachen, dass es kein Quatsch ist.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

P: Ja, das sind so endlose Diskussionen, wie mit der Familie, mit mir selbst und mit der letzten Therapeutin. Ich verstehe das ja, aber es könnte doch was sein. T: Genau, das ist so. Der Zwang gewinnt immer, egal wie Sie diskutieren, e hat immer das letzte Argument. Deshalb nennt man den Zwang auch die Krankheit des Zweifelns. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passieren kann, besteht. Es könnte immer etwas sein, wenn auch nur bei einer Wahrschein- lichkeit von 0,000000001, aber die Wahrscheinlichkeit besteht eben. Damit arbeitet der Zwang, und er hat in dieser Logik letztlich immer recht. P: Aber das ist ja schlimm. Aber das ist doch unlogisch, dass mir was passiert er

 

mit Aids an der Türklinke oder so, de facto geht das nicht. T: Dann nicht, wenn Sie es einfach üblich und realistisch sehen könnten. Und Sie sagen ja auch: „Eigentlich weiß ich ja, dass nichts sein kann, aber ...". Mit der Logik kommt man da nicht ran. Sie verlieren dann immer. Der Zwang ist spitzfindig, er kann immer noch sagen „Es könnte trotzdem sein, dass ..." oder Man kann es nicht einhundertprozentig ausschließen". P: Ja, so ist es immer.

 

T: Der Zwang ist eben ein Fremdsystem, er funktioniert wie eine Diktatur. Er hat Ihre gesamte Persönlichkeit vereinnahmt, er beeinflusst Sie. Er hat auch Ihren Willen und Ihre Bedürfnisse im Griff. Ist es nicht so, dass Sie lieber im Bus die ganze Fahrt stehen, anstatt sich locker hinzusetzen?

 

P: Ich würde schon gern locker dasitzen, auch mit meinen Haussachen überall sitzen. Das wäre schön. Aber dann kommen immer wieder diese Gedanken und ich werde unruhig. T: Ja, und die kommen von eben diesem Fremdsystem, nicht aus Ihrer Per-

 

sönlichkeit, Ihren Bedürfnissen. Und das müssen wir ändern. Man kann dem

 

Zwang auch Fragen stellen. Ich möchte, dass Sie sich mal vorstellen, hier ne-

 

ben Ihnen sitzt der Zwang und Sie fragen ihn ernsthaft. „Warum muss ich das

 

alles machen?" und Wie willst Du mich sehen?"

 

P: (nach einer Pause) Ich muss das eben machen und fertig, da gibt es nichts anderes und basta. Er will mich fügsam, mickrig, klein und ohnmächtig se-

 

hen. Oh Gott, das ist ja erschreckend! T: Das ist ganz schön quälerisch, was der Zwang macht.

 

P: (nachdenklich) Ja. Aber ich weiß nicht, wie ich dagegen ankommen kann. T: Er bietet Ihnen aber auch was.

 

P: (erstaunt) Was denn?

 

T: Er bietet Ihnen doch Schutz, Sicherheit, wenn Sie tun, was er sagt. Der Zwang ist wie ein Raum mit Mauern, an die man sich lehnen kann; sich be- schützt, sicher und geborgen fühlen kann. Aber es ist ein immer enger wer- dendes Gefängnis.

 

8 Berührungwermeidungszwänge (Waschzwänge)

 

Er lockt Sie dort hinein und sät erneut Zweifel, und Sie müssen reagieren, fühlen sich dann wieder beschützt, aber der Raum, Ihr Handlungsspielraum, Ihre Freiheitsgrade werden immer weniger. Der Wille Ihrer Persönlichkeit wird immer kleiner, Ihre wirklichen Gefühle und Bedürfnisse werden immer mehr unterdrückt, scheinbar blockiert. Sie werden zunehmend zur Marionet- te des Zwanges und fühlen sich daher so ohnmächtig und klein. Und er redet Ihnen noch ein, dass seine Gedanken von Ihrer Persönlichkeit, von Ihnen, kommen, dass Sie es wirklich wollen. Aber man kann etwas dagegen tun. Ihre Gefühle, Ihre Bedürfnisse, also Ihre Persönlichkeit muss gestärkt werden ge- genüber dem Zwang. Dabei helfe ich Ihnen und die Möglichkeiten bespre- chen wir das nächste Mal.- Wie geht es Ihnen gerade?

 

P: Ich bin ziemlich betroffen, aber es ist so. Jetzt verstehe ich das Ganze bes- ser. Ich will nicht mehr Marionette des Zwanges sein. Ich weiß bloß noch nicht, wie.

 

8.3.3 Maßnahmen zur Distanzierung vom Zwang

 

(1) Beobachtung anderer Menschen

 

Die Anleitung zur Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen in der glei- chen Situation, in der sich die Patientin befindet, hat zum Ziel, Reflexionen fol- gender Art in Gang zu setzen:

 

Wie machen es andere (z.B. beim Betreten eines Geschäftes)? â–¸ Welchen Eindruck machen sie dabei? Sind sie angespannt, lächeln

 

sie usw.?

 

Welchen Eindruck macht das auf mich? Wie beurteile ich Menschen wie sie?

 

Welche Vorteile hat es, sich so zu verhalten wie sie? Hat es Nachteile, wenn ja,

 

welche? ‣ Sehe ich Menschen, die sich so verhalten, wie ich? Was mache ich anders, wie geht es mir dabei?

 

â–¸ Wie ist es dazu gekommen, dass es bei mir anders ist?

 

â–¸ Bin ich auch in anderen Bereichen des Lebens von den anderen verschieden, oder nur da, wo der Zwang Regie führt?

 

â–¸ Muss das immer so bleiben? Wodurch kann es anders werden?

 

â–¸ Kann ich mir vorstellen, so zu fühlen, zu denken und zu handeln, wie andere

 

Menschen auch, und was würde dann anders in meinem Leben werden? Es soll eine zunehmende innere Annäherung an andere Menschen in Gang ge-

 

setzt werden, um parallel dazu eine zunehmende innere Distanzierung vom Fremdsteuerungssystem des Zwanges zu erlangen.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschwänge)

(2) Dialog mit dem Zwang

 

In einem zweiten Schritt zur Förderung der Distanzierung erweist es sich als besonders nützlich vom Selbst aus" mit dem Zwang zu dialogisieren und „Wa- gegen- rum-Einsichtsfragen" zu stellen. Die Patienten bekommen dann Antworten wie: Ich will dich klein und hilflos sehen. Ich bin stark, du bist nichts." (Hofmann und Hoffmann, 1998). Dies ängstigt die Patienten anfangs (weil der Zwang Ein- sichtsfragen verbietet), aber dann immer weniger. In der Folge kann es durch diese Übung zur Sättigung und zu einem zunehmend großen Unwillen über dem Zwang kommen (,,seine Stimme wurde immer leiser"). Nach und nach fühlen sich die Patienten flexibler im Umgang mit den Diktaten des Zwan- ges, und es treten Erinnerungen an zwangsfreie Zeiten auf, oft mit einer leisen und beginnenden Sehnsucht nach Befreiung aus dem Kerker des Zwanges und nach Freiheit und Entspannung.

 

vor. Dieser Der „leere Stuhl". Eine mögliche Technik zur Förderung der Distanzierung v Zwang ist der leere Stuhl". Unsere Beispiel-Patientin platziert einen Stuhl vor vom ihrem Sitzplatz und stellt sich einen konkreten Zwangsgedanken Gedanke wird symbolisch auf den leeren Stuhl gesetzt. Die Patientin fängt nun an, dem Zwang Fragen zu stellen und spricht die Antworten laut aus, die sie hört. Sie hört z.B.: „Hör auf, mich zu fragen, das ist so, das geht dich nichts an!" Die Patientin ärgert sich zunehmend: „Der blöde Zwang, der versucht mir alles zu vermiesen, der will mich nicht in Ruhe lassen." Die Patientin äußert den Wunsch, sich von dem Zwang befreien zu wollen.

 

Folgender Dialog zwischen der Patientin und dem Therapeuten gibt ein Fazit der Dialoge mit dem Zwang wieder:

 

TRANSKRIPT

 

T: Wie will der Zwang Sie sehen?

 

P: Als seine Gefangene. Ich bin ein Spielzeug, auf dem er rumhauen kann. T: Wie will der Zwang sich selbst sehen? P: Er will der Mittelpunkt meines Lebens sein. Er will in mir hausen wie eine

 

mächtige Made und mich von innen auffressen.

 

T: Welches Stück will er von Ihnen?

 

P: Meine Freude, meine Lebendigkeit, mein Herz, alles, was mir Spaß macht. T: Wenn Sie ihn fallen lassen würden, womit droht er Ihnen?

 

Er will soviel von mir.

 

P: Er zetert, er wird ganz zornig, böse. Aber womit er mir genau droht oder drohen kann, da kommt keine Antwort, komisch ... Ich denke manchmal, ich will ihn nicht, der soll sich jemand anders suchen, aber dann werde ich doch wieder schwach.

 

&Berührungvermeidungszwänge (Waschzwänge)

8.3.4 Erweiterung des inneren und äußeren Probierraums durch Verhaltensexperimente

 

Ziel ist die Förderung der Wahrnehmung von eigenen Gefühlen, Gedanken und Handlungen in Kontrast zu den starren Fremdinstruktionen des Zwanges („Du darfst dies nicht, du musst jenes."). Die Patientin wird dazu angeleitet, auszu- sprechen, ob sie an der einen oder anderen Stelle ihre zwanghaften Gewohnhei- ten in der Vorstellung oder auch in der Wirklichkeit überschreiten kann, und wie sie sich bei diesem Versuch fühlt.

 

TRANSKRIPT

 

Übung zur Erweiterung des Probierraums und der Therapeut stehen

 

Frau W. vor einem Haus, das ihr unsauber und vernachlässigt", also mit großer Wahrscheinlichkeit,,verseucht" vorkommt. T: So, jetzt stehen wir vor der Haustür. Sie ist offen. Wie geht es Ihnen? P: (mit dem Rücken zum Haus) Mir ist gar nicht so gut heute. Ich wusste ja,

 

dass wir hierher kommen würden.

 

T: Versuchen Sie sich doch erst einmal an die Situation zu gewöhnen. Kennen Sie das Haus?

 

P: Ich gehe jeden Tag vorbei, aber mit abgewandtem Gesicht.

 

T: Warum?

 

P: So eine Gewohnheit von mir. Wenn ich etwas nicht sehe, das mir un- angenehm ist, dann nehme ich nichts davon auf und trage es nicht nach Hause.

 

T: Wie finden Sie diesen Gedanken?

 

P. Ich weiß, dass es ein typischer Zwangsgedanke ist. Klart. Magisches Denken" haben Sie gesagt.

 

Sie haben es mir ja er-

 

T: Allerdings, bewirkt ein solcher Gedanke etwas in der Wirklichkeit?

 

P: Nein, nur in meinem Kopf. Er beruhigt, aber nur kurze Zeit.

 

T: Und dann?

 

P: Ich würde es immer wieder tun und immer wieder.

 

T: Haben Sie sich das Haus schon mal richtig angeschaut?

 

P: Natürlich nicht.

 

T: Könnten Sie sich vorstellen, es jetzt zu tun? Wie ist Ihnen bei dem Gedan-

 

ken?

 

P: Sehr unbehaglich.

 

T: Bleiben Sie bei dem Gedanken. Nur als Möglichkeit.

 

P... Ich denke, ich will es versuchen. Wir müssen ja weiterkommen.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschawang

8.3.4

 

Erweiterung des inneren und äußeren Probierraums durch Verhaltensexperimente

 

Ziel ist die Förderung der Wahrnehmung von eigenen Gefühlen, Gedanken und Handlungen in Kontrast zu den starren Fremdinstruktionen des Zwanges („Du darfst dies nicht, du musst jenes."). Die Patientin wird dazu angeleitet, auszu- sprechen, ob sie an der einen oder anderen Stelle ihre zwanghaften Gewohnhei- ten in der Vorstellung oder auch in der Wirklichkeit überschreiten kann, und wie sie sich bei diesem Versuch fühlt.

 

TRANSKRIPT

 

Übung zur Erweiterung des Probierraums

 

Frau W. und der Therapeut stehen vor einem Haus, das ihr unsauber und vernachlässigt", also mit großer Wahrscheinlichkeit,verseucht" vorkommt. P: (mit dem Rücken zum Haus) Mir ist gar nicht so gut heute. Ich wusste ja, dass wir hierher kommen würden.

 

T: So, jetzt stehen wir vor der Haustür. Sie ist offen. Wie geht es Ihnen?

 

T: Versuchen Sie sich doch erst einmal an die Situation zu gewöhnen. Kennen Sie das Haus?

 

T: Warum?

 

Hause.

 

P: Ich gehe jeden Tag vorbei, aber mit abgewandtem Gesicht. P: So eine Gewohnheit von mir. Wenn ich etwas nicht sehe, das mir un- angenehm ist, dann nehme ich nichts davon auf und trage es nicht nach

 

T: Wie finden Sie diesen Gedanken? P: Ich weiß, dass es ein typischer Zwangsgedanke ist. Sie haben es mir ja er-

 

klärt. Magisches Denken" haben Sie gesagt.

 

T: Allerdings, bewirkt ein solcher Gedanke etwas in der Wirklichkeit? P: Nein, nur in meinem Kopf. Er beruhigt, aber nur kurze Zeit.

 

T: Und dann?

 

P: Ich würde es immer wieder tun und immer wieder.

 

T: Haben Sie sich das Haus schon mal richtig angeschaut?

 

P: Natürlich nicht.

 

T: Könnten Sie sich vorstellen, es jetzt zu tun? Wie ist Ihnen bei dem Gedan-

 

ken?

 

P: Sehr unbehaglich.

 

T: Bleiben Sie bei dem Gedanken. Nur als Möglichkeit.

 

P... Ich denke, ich will es versuchen. Wir müssen ja weiterkommen.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge

T: Überlegen Sie es sich gut. Denken Sie an die Konsequenzen, ich meine an die in Ihrem Kopf, wenn Sie nach Hause kommen. T: Es ist Ihre Entscheidung. Bleiben Sie ganz bei sich und entscheiden Sie P

 

dann.

 

P: Ich muss es ja tun. T: Nein, Sie müssen es nicht. Aber wenn Sie es tun wollen, dann machen wir jetzt Folgendes. Sie richten sich jetzt so richtig auf, innerlich wie äußerlich, wie wir es geübt haben. Dann sagen Sie sich: „Ich drehe mich jetzt um und sche mir zum ersten Mal in meinem Leben dieses Haus an." P: (dreht sich um)

 

T: Lassen Sie sich Zeit. Schauen Sie ganz ruhig hin, so als müssten Sie das Haus begutachten. Ganz ruhig, hier stehen Sie, und da ist das Haus. Sie haben einen Entschluss gefasst und stehen ganz fest dazu, und Sie tun das, was Sie sich vor- genommen haben. Ich gehe jetzt um die Ecke und lasse Sie ein paar Minuten allein.

 

Solche Verhaltensexperimente dienen dazu, dass die Patienten probieren, sich in einer Situation anders zu verhalten. Zuerst sollen sie mehr spielen, dann mit klarem Entschluss handeln. Doch das machen sie nicht als Mutprobe oder hek- tisch und schnell, sondern nachdem sie die nötige innere Spannkraft mobilisie- ren und erst eine klare Entscheidung treffen, dann die Handlung mit großer innerer Beteiligung bis zu Ende ausführen. Wenn sie sich nicht dazu entscheiden können, dann wird das vom Therapeuten nicht als Versagen dargestellt, sondern es wird gemeinsam genau analysiert, wie der innere Prozess verlaufen ist, welche Hindernisse dabei aufgetreten sind und an welcher Stelle man ansetzen müsste, damit das Ganze in eine andere Richtung verläuft.

 

8.3.5

 

Tolerierung und Bewältigung von zwanghaften Gedanken und Emotionen

 

Diktate des Zwanges. Die Zwangsgedanken, die während der Exposition auftre ten, haben folgende typische Inhalte: Sie warnen vor einer potentiellen Berührung, vor vermeintlichen Risiken in Form von Beschmutzung, Infektion oder einfach vor unbestimmtem Übel. Sie warnen davor, gefährliche oder Ekel erregende Stoffe weiterzuverbreiten und vor allem davor, sie in das häusliche Milieu einzuschlep- pen, das dann im schlimmsten Fall nie mehr problemlos zu benutzen sei. Sie dran- gen dazu, die ganze Prozedur abzubrechen, oder zumindest nach den alten

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschwänge)

zu handhaben. Vor allem aber betonen sie die Notwendigkeit, durch Regeln wie Waschen und Reinigen schon erfolgtes Unheil zu reparieren. zwanghaften Regeln

 

Es ist notwendig, den Patienten darauf vorzubereiten, dass diese typischen Inhalte der Zwangsgedanken während der Expositionen aufkommen werden, die es dann zu tolerieren gilt. Dies geschieht dann in den bisher genannten vorberei- tenden Maßnahmen wie Dissoziation vom Zwang oder in den therapeutischen

 

Eigener Wille. Der Patient soll auf die Zwangsgedanken mit einem gewissen Gefühl der Sättigung reagieren: „Ich weiß, wenn ich jetzt das machen will, dann kommt mir wieder die alte Leier in den Kopf: Pass auf, das ist lebensgefährlich. Wie lange muss ich mir diesen Unsinn noch gefallen lassen?" Die Haltung, die im Idealfall daraus resultieren soll, ist ein trotziges Entgegensetzen des eigenen Willens

 

und der neu entstehenden Selbstbestimmung gegen das Fremddiktat des Zwanges: Ich will das trotzdem jetzt so machen, ich lasse mich nicht mehr tyrannisieren." Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine solche Haltung nicht von einem Tag zum anderen entsteht, sondern sozusagen von mehreren Seiten her, oft recht mühsam aufgebaut werden muss. Wenn Expositionen am Anfang in Gegenwart des Therapeuten stattfinden, so kann der gemeinsame Dialog ein sehr wichtiges Instrument zum Aufbau einer solchen Haltung sein.

 

8.3.6 Festlegung von Anlass, Häufigkeit und Dauer von normalen Waschvorgängen

 

Vor dem ersten Teil der Exposition ist es unerlässlich, mit dem Patienten ver- bindliche Absprachen über sein Vorgehen in der Situation zu treffen.

 

Eines der wichtigsten Charakteristiken dieser Störung ist Folgendes: Die Patienten beunruhigt weniger, was ihnen „draußen" widerfährt; das Wich- tigste ist vielmehr das, was sie anschließend tun können, um die Spuren des „Draußen" zu beseitigen.

 

Die passive Vermeidung. Draußen, d.h. im Umgang mit den vermeintlichen Ekel- und Gefahrenstoffen der Welt, besteht ihr Hauptabwehrmechanismus in der passiven Vermeidung Kontakte und Berührungen sind so weit wie möglich zu vermeiden.

 

Die aktive Vermeidung, d.h. die Beseitigung von Spuren von bereits stattgefun- denen Berührungen, bildet sozusagen ihren zweiten Verteidigungsring. Es ent- stehen dann ganz bestimmte Rituale, etwa beim Betreten der Wohnung (Klei- derwechsel, bestimmte Gegenstände werden ausgelagert usw.) und meist an-

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

schließend Wasch- und Reinigungsaktionen. Die Anzahl, Intensität und Dauer der Waschungen hängt meist direkt von der vermeintlichen Verseuchung" ab, die draußen stattgefunden hat. Die Beziehung zwischen beiden ist nicht selten durch umfangreiche, feststehende Regeln festgelegt. Ein besonderes Problem beim sich Waschen ergibt sich aus der oft anzutreffenden Labilisierung der Be- wusstseinsinhalte. Wir haben am Beispiel der jungen Altphilologiestudentin gesehen, zu welchen Nöten Unvollständigkeitsgefühle, besonders in Form einer Störung des Handlungsgedächtnisses, führen können.

 

Beendigungskriterien nicht expliziert. Ein anderes typisches Problem betrifft die große Schwierigkeit, Waschvorgänge zu beenden. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Beendigungskriterien nicht klar expliziert sind oder als Kriterium für ein Waschen, das zum Erfolg geführt hat, gefühlsmäßige Zustände herangezogen werden, die meist sehr schwer herstellbar sind. (,,Ich kann dann aufhören, einen Körperteil zu waschen, wenn ich das Gefühl habe, dass er sich ganz rein vom Rest des noch ungewaschenen Körpers abhebt.")

 

Ableitung für die Therapie. Sollte die Therapie zu dauerhaftem Erfolgen füh- ren, so muss gewährleistet sein, dass die bei Expositionen eingeleiteten Lernpro- zesse nicht durch eine anschließende symptomatische Abwehr, etwa in Form der üblichen zwanghaften Waschungen, immer wieder zunichte gemacht werden. Deshalb müssen unbedingt Absprachen getroffen werden, etwa über folgende

 

Punkte:

 

Wie wird sich die Patientin verhalten, bevor sie ihre Wohnung und einzelne Zimmer, z.B. Schlafzimmer, Bad und Küche, betritt? â–¸ Wie ist vorzugehen, wenn bestimmte Gegenstände, wie Schränke, Tische

 

usw., berührt werden sollen?

 

â–¸ Wie ist mit Gegenständen, wie Flaschen, Post usw., zu verfahren, die von

 

„draußen" in die Wohnung gelangen?

 

Wie wird die Patientin vor allem dann vorgehen, wenn Gedanken und die entsprechenden Gefühle des Verseuchtseins" und einer möglichen gesund- heitlichen Gefahr für sich und für andere" auftreten?

 

Welche Waschungen sind wann erlaubt, wie sind sie genau vorzunehmen, wie

 

lange sollen sie dauern und welches sollen die Beendigungskriterien sein?

 

8.3.7 Durchführung von Expositionen nach dem Modell der Subjektkonstituierung

 

Im Folgenden werden die einzelnen Phasen der Expositionen geschildert. Im ersten Teil der Exposition findet eine Konfrontation mit einer kritischen Situati- on statt. Im zweiten Teil geht es um das Management des Abwehrverhaltens mit

 

68 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

dem Ziel, die Tendenzen zu symptomatischen Waschungen und Reinigungsritu- alen zu überwinden und stattdessen ein angemessenes normales" Hygienever- halten zu etablieren.

 

(1) Vorbereitung zur Übung

 

Patientin und Therapeut suchen gemeinsam eine Expositionssituation aus. Die Patientin hat die Möglichkeit, über ihre aktuellen Ängste und Schwierigkeiten vor der Übung zu sprechen. Sie wird noch einmal darin bestärkt, alle Ressour- cen, über die sie jetzt schon verfügt, einzusetzen, um ein möglichst vermeidungs- und zwangsfreies Verhalten zu realisieren.

 

Es geht darum zu lernen, einen neuen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen und sich dann wieder ganz normal in der Welt zu bewegen. Dadurch wird der Zwang in seiner Macht geschwächt und das eigene Ich gestärkt. Die Patientin behält wiederum die Kontrolle über den gesamten Verlauf, sie kann unterbre- chen und sogar abbrechen, wenn sie glaubt, es tun zu müssen. „Vermeidet sie, wird die innere Situation dabei gemeinsam analysiert und später für den wei- teren Verlauf fruchtbar gemacht. Die Patientin wird vor und bei den Übungen in ihrer Absicht gestützt und ermuntert, weiterzumachen, aber ohne dass ein gro- Ber Druck auf sie ausgeübt wird.

 

(2) Innere Mobilisierung vor der Ausführung Die Patientin und der Therapeut stehen vor der Wohnungstür der Patientin.

 

Absprache des Handlungsablaufs. Sie soll auf eine normale Art (d.h. ohne den Versuch, mit nichts in Kontakt zu kommen) zwei Treppen hinuntersteigen, den Briefkasten öffnen (ohne ihn vorher abzusprühen), die Post entnehmen (ohne sie in einen mitgebrachten Plastikbeutel purzeln zu lassen), ihn schließen (ohne anschließend den Schlüssel abzusprühen), und dann allein in die Wohnung zurückkehren. Die Schuhe dürfen ausgezogen und durch Hausschuhe ersetzt werden. Sie soll dann die Post auf den Wohnungstisch legen (ohne Handschu- he), sie öffnen und lesen. Dann soll sie sie auf ein Büfett zu den anderen Papie- ren legen (ohne die Stelle vorher abzuwischen und abzusprühen). Anschließend soll sie sich (nach einem genau abgesprochenen und eingeübten Schema und in der vorgesehenen Zeit) die Hände waschen, sich ein Butterbrot machen, essen, sich die Schuhe anziehen und die Wohnung verlassen. Sie wird dann den Thera- peuten in einem benachbarten Café treffen, wo beide die Nachbesprechung ab- halten.

 

Innere Mobilisierung. Die Patientin wird ermuntert, bevor sie beginnt, sich innerlich in einen Zustand hoher mentaler Spannkraft zu versetzen. Sie soll sich sagen: Ich stehe jetzt vor meiner Wohnungstür, ich fühle mich wach und voll

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschwänge)

es zu tun. Ich Anfang da, ich nehme mir jetzt vor, etwas zu tun, was ich die ganze Zeit so nicht mehr getan habe, weil ich krank geworden bin. Ich bin fest entschlossen, e bin darauf gefasst, dass bei der Berührung des Briefkastens mich am wieder dieses eklige Gefühl beschleicht, aber ich werde das durchstehen und ihn ganz normal anfassen." Sie soll eine Weile auf der Treppe stehen bleiben, sich die Umgebung ansehen und sich fragen: Will ich es wirklich tun?". Sie soll sich ein letztes Mal „Ja" sagen und sich innerlich ein Signal zum Beginn geben. (Am Anfang kann diese Sequenz auch im Dialog mit dem Therapeuten ablaufen.)

 

(3) Ausführung der abgesprochenen Handlungen Die Patientin führt den oben geschilderten Ablauf aus. Es wird bei allen Exposi tionen großer Wert darauf gelegt, dass die Bewegungen der Patientin ohne Überhastung, aber dennoch,,flott" und organisch rund ablaufen. Wenn sie et- was anfasst, so soll sie beherzt zugreifen, ohne Zögerlichkeit, halbes Anfassen mit einem Finger usw. Dem Therapeuten ist es lieber, sie lässt eine Sache einstweilen bleiben, als wenn sie sie nur unter Druck als Mutprobe oder halbherzig macht. Wenn sie es nicht macht, können erneute Hilfestellungen, wie In-sensu- Übungen gegeben werden.

 

Soll bei der Übung der Therapeut präsent sein, kann mit der Patientin verab- redet werden, dass sie auf ein Signal hin ihre innere und äußere Haltung immer wieder aufrichtet. Am Anfang kann der Therapeut anregen, ermuntern und verstärken, dann geht er nach und nach zu einer neutraleren, aber wohlwollen- den Präsenz über.

 

8.3.8 Überwindung von Ekelreaktionen

 

Oft sind Patienten davon überrascht, wie wenig Gefühle wie Ekel und Angst bei den Expositionen auftreten. Wenn das aber doch der Fall ist, so sind besondere Maßnahmen zu ihrer Bewältigung notwendig, die in den Expositionen eingeübt werden. Während Ängste - neben der Gegenkonditionierung durch inkompatible Emotionen - sehr stark über eine Relativierung und Widerlegung ihrer kognitiven Inhalte beeinflussbar sind, verlangt die Bewältigung von Ekel eine andere Strategie.

 

Verdeutlichen wir uns noch einmal die Verhältnisse anhand der Entwicklung der Erkrankung unserer Patientin Frau W.:

 

Nach der Entstehung ihrer Krankheit stehen Substanzen wie Kot, Urin und undefinierbar Widerwärtiges derart im Mittelpunkt ihres Bewusstseins, dass sie sie als Vorboten zukünftigen Übels jeglicher Art interpretiert und einen endlosen Abwehrkampf dagegen begonnen hat. Doch diese Substanzen waren von jeher in ihrer Umgebung und damit in ihrem Leben präsent. Sie bildeten aber einen

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschwänge)

(wenn auch grundsätzlich unangenehmen) Teil des Hintergrunds ihres Erlebens. an ihre persönliche Krise (der Trennung) sind nun diese Stimuli im extremen Maße in ihrer Bedeutung gewachsen und in ihre Erlebniswelt ein- Im Anschluss gedrungen. Sie gelten seitdem als Symbole des Bösen, des Gefährlichen und des Widerwärtigen, das sie zu überwältigen droht, und dessen sie sich im Alltag er- wehren muss.

 

Funktion des Ekels. Die permanenten Abwehrbemühungen bei dieser für die Zwangserkrankung typischen externalen Regulationsform werden hauptsächlich angetrieben durch den Affekt des Ekels. Seine Hauptfunktion besteht darin, ein Verhalten zu fördern, das zum Ziel hat, eindringendes Widerwärtiges von sich fern zu halten oder gegebenenfalls wieder zu entfernen. Wenn wir diesen Me- chanismus der Entstehung pathologischer, d.h. exzessiver und auf Symbolhaftes gerichteter Ekelreaktionen begreifen, so wird deutlich, auf welche Art ihre Über- windung therapeutisch eingeleitet werden kann.

 

Übersicht: Maßnahmen zur Überwindung von Ekelreaktionen

 

(1) Stimuluskonfrontation

 

(2) Reaktionsexposition (3) Biographische Einordnung

 

(4) Distanzaufbau

 

(5) Abwehrverzicht (6) Aufmerksamkeitsverlagerung

 

(Stimuluskonfrontation

 

Die Ekelreaktion wird anhand einer Reizkonfrontation provoziert (z.B. durch eine Berührung).

 

(2) Reaktionsexposition

 

Der nächste Schritt ist eine Reaktionsexposition in dem Sinne, dass kein Versuch unternommen wird, die Berührung rückgängig zu machen oder zumindest die Ekelreaktion zu unterdrücken. Im Gegenteil dazu wird sie zugelassen", sie soll sich entfalten.

 

(3) Biographische Einordnung

 

Der dritte Schritt besteht darin, die emotionale Bedeutung der Reaktion, die zuvor in der Therapie erarbeitet worden ist, zu aktualisieren. Sie wird in ihren biographischen Kontext eingeordnet, und in Zusammenhang mit ihren wahren Auslösern gebracht.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschwänge)

 

17Das heißt konkret: Mit der Patientin wurden vorher eine Reihe von charak teristischen, affektgeladenen Szenen aus der Entstehungsgeschichte ihrer Störung aufgestellt. In dem Moment, wo sie nun in der Expositionssituation einen Affekt verspürt, der durch die zwanghaften Stimuli ausgelöst wurde, assoziiert sie da- zu diejenige Szene aus ihrer Lebensgeschichte, die am besten dazu passt. Sie bleibt in seiner Vorstellung bei dieser Szene und versucht somit den aktuellen Affekt dorthin einzuordnen, wo er seinen Ursprung hat und in Wirklichkeit hingehört.

 

BEISPIEL

 

Biographische Einordnung des Affekts

 

Die Patientin hat mit der Schulter die Hauswand gestreift und empfindet eine sehr starke Ekelreaktion mit Phantasien über Kot und Urin, der von einer dementen und unsauberen Hausbewohnerin an die Wand geschmiert wurde. Weiter taucht der Gedanke auf, sie könne mit derselben Schulter die Wände ihrer eigenen Wohnung verseuchen, so dass sie nicht mehr ohne extremen Widerwillen darin leben könnte.

 

Auf ihrer Liste hatte sie als kritische Lebenssituation ihre Umzüge angegeben: In jeder Wohnung hatte ich das Gefühl, schutzlos und ausgeliefert zu sein; alle möglichen fremden Menschen versteckten sich hinter schweren Haustüren. Die Teile des Hauses, die ich am Tag benutzte, wurden vielleicht zu anderen Zeiten, vor allem nachts, von ihnen okkupiert, und es war durchaus möglich, dass sie dort alle möglichen Spuren von Gefährlichem und Widerwärtigem hinterließen, dem ich, aus Unkenntnis darüber, erst recht ausgeliefert war.

 

Vor allem nach meiner Trennung, als ich mich so widerwärtig behandelt fühlte, fühlte ich mich von allen Seiten von Ekeligem bedrängt. Da gehört das alles hin.

 

(4) Distanzaufbau

 

Im vierten Schritt werden auf diesem Hintergrund neue Grenzen aufgebaut, und zwar zwischen dem eigenen Ich und den symbolhaften Stimuli (in unserem Bei- spiel: den Wänden). Diese werden dadurch wieder auf ihre wahre Bedeutung reduziert (,,Irgendwelche leicht vergammelten Häuserwände, an einem banalen Ort, völlig unwichtig für die Menschheit und erst recht für mich. Man geht ein- fach durch, und das ist es dann gewesen. Die wahren Dramen des Lebens sind woanders."). Dieses Erleben der Distanz wird vom eigenen Ich innerlich so weit gesteigert, bis die kritischen Objekte und die fremden Menschen, die mit ihnen assoziiert sind, von ihrem unkontrollierbar invasiven Charakter wieder in der Hintergrund des Erlebens zurückverwiesen werden.

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

(5) Abwehrverzicht

 

Gelingt die Subjektkonstituierung (Ich bin der Bewertende und Handelnde, der die Bedeutung der ihn umgebenden Welt selbst bestimmt."), dann wird im nächsten Schritt der Verzicht auf die Notwendigkeit eines zusätz- lichen zwanghaften Abwehrrituals, wie Abwaschen und Wischen, innerlich be- tont.

 

(6) Aufmerksamkeitsverlagerung

 

Im letzten Schritt schließlich wird die Aufmerksamkeit bewusst weg vom bishe- rigen Objekt auf neue Inhalte verlagert.

 

BEISPIEL

 

Aufmerksamkeitsverlagerung Der Patient mit Ekelangst vor Katzenstreu, der so erfolglos einem Habituati- onsversuch unterzogen wurde (s. 6.3.4), berichtet von einem spontanen Er- lebnis, das er kurze Zeit danach an seiner Haustür hatte: „Jetzt stehe ich wie- der vor dieser verdammten Tür. Ich erinnere mich noch genau daran, wie meine damalige Freundin sie anfasste, nachdem sie den Käfig mit der kranken Katze abgestellt hatte. Die Katze hatte sich auf dem Weg übergeben und unter sich gemacht, gelblich und widerlich. Mir wird heute noch übel, wenn ich daran denke. Jetzt kann ich denselben Zirkus wie immer veranstalten mit den Papiertüchern und so. Das ödet mich schon an. Zehnmal habe ich mit dem Therapeuten vor dieser verdammten Tür gestanden und sollte sie mal anfas- sen, mal nicht, mal ganz, dann wieder nur mit einem Finger. Muss ich denn immer noch so an der Vergangenheit kleben und den ganzen elenden Zwang mit mir herumschleppen? Die Katze ist tot, die Freundin in Amerika, und ich spiele hier noch immer den Hampelmann. Ich will jetzt nach Hause, ver- dammt, und werde sie jetzt öffnen, wie vor diesem ganzen Alptraum". (Hoff- mann, 1998 a, S. 272)

 

Die nach der Stimuluskonfrontation genannten vom Patienten durchzuführen- den Maßnahmen (2-6) werden mit ihm geübt, teils in Trockenübungen“ be imaginierten Konfrontationen, teilweise bei den ersten In-vivo-Expositionen di in Therapeutenbegleitung stattfindet.

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen

 

8.3.9 Hinweise zur Durchführung von Expositionen nach dem Modell der Subjektkonstituierung

 

(1) Normales Alltagsverhalten

 

Übungszwecken bloß berührt Die Expositionssituationen sollen immer so angelegt sein, dass die Patientin die Gelegenheit hat, normales Alltagsverhalten zu praktizieren. Objekte wie Briefkäs ten, Türklinken, Briefe sollen nicht nur aus werden, sie sollen bei den Übungen ihrer normalen Funktion wieder zugeführt werden, d.h. die Tür wird geöffnet, der Briefkasten auch, ihm wird die Post ent- nommen, mit der dann normal umgegangen wird usw.

 

(2) Einschub von Übungen bei

 

Problemen Treten dabei starke innere Hemmnisse in Form von Emotionen wie Angst oder Ekel auf, so wird der normale Vorgang unterbrochen und die Übung nimmt den Verlauf, den wir unter Ekelbewältigung (s. 8.3.8) beschrieben haben. Haben die Patienten und der Therapeut den Eindruck, dass die Situation wieder im Griff ist, so kann der normale Vorgang fortgeführt werden.

 

(3) Negative Gefühle

 

Es ist bei dieser Form der Exposition nicht notwendig, dass die negativen Gefüh ge- le ganz absinken. (Der Therapeut kann jederzeit die Gefühlsintensität nach der üblichen subjektiven Skala einschätzen lassen.) Sie sollten allerdings soweit sunken sein, dass der Patient sein Befinden unter Kontrolle hat und die Hand- lungen weiterführen kann. Denn die Zielsetzung jeder Therapie und Exposition besteht letzten Endes darin, dass der Patient sich wieder ganz normal in seinem Alltag verhalten kann, ohne durch die typischen kognitiven und emotionalen Einschübe des Zwanges daran gehindert zu sein.

 

(4) Selbständige Ausführung der Expositionen In dem Maße, wie der Patient die hier beschriebene Vorgehensweise im Zusam- menspiel mit dem Therapeuten immer besser beherrscht, umso mehr führt er die Expositionen selbständig durch. Er hat dabei die Aufgabe, ähnlich vorzuge-

 

hen, wie er es zusammen mit dem Therapeuten gelernt hat. Wenn spontan, d.h. ungeplant, schwierige Situationen auftreten, so wendet er

 

ebenfalls vorher eingeübte Techniken an, um diese zu meistern.

 

(5) Einschub von In-sensu-Übungen

 

Es können zusätzlich In-sensu-Übungen nach dem Modell der kognitiven Probe durchgeführt werden, um das neue Verhalten des Patienten auf kognitiver, emo- tionaler und motorischer Ebene einzuüben.

 

8 Berührungsvermeidungszwänge (Waschzwänge)

8.3.10 Umgang mit eventuell auftretenden intensiven Gefühlen

 

Gelegentlich werden bei Expositionen Gedanken an aktuelle Lebensumstände oder an frühere Episoden aktiviert, die von intensiven Gefühlen begleitet sind.

 

BEISPIEL

 

Umgang mit starken Gefühlen Bei einer Exposition, bei der Frau B. ihren Briefkasten in dem „verseuchten" , dass an dem Tag

 

Hausflur normal anfassen und leeren sollte, stellte sie fest keine Post für sie gekommen war. Daraufhin brach sie in Tränen aus.

 

T: Was macht Sie jetzt so traurig?

 

P: (versucht sich schnell zu fassen) Ich musste daran denken, wie oft ich auf einen Brief von Rainer gewartet habe und vor dem leeren Briefkasten gestan-

 

den habe. T: War es oft?

 

P: Mindestens drei Wochen lang jeden Tag außer sonntags. Dann habe ich

 

aufgegeben. T: Wie war Ihnen damals zumute, wenn Sie feststellen mussten: Wieder kein

 

Brief. P: Zum Heulen, wie eben.

 

T: Warum?

 

P: Weil ich noch voller Hoffnung war.

 

T: Was hat diese Hoffnung am Leben erhalten?

 

P: Er hatte mir gesagt,,,Ich bin sehr hart zu dir gewesen, aber das musste sein. (Er hatte sie geschlagen, weil sie ihn im Zusammenhang mit einer anderen Frau ausspioniert" habe.) Aber es gibt da etwas, was ich dir noch nicht gesagt habe. Wenn du es weißt, wirst du mich besser verstehen und mir vergeben. Glaube mir, wir haben noch eine Chance. Ich werde dir schreiben."

 

T: Und dann kam nichts.

 

P: Ich fühlte mich so verlassen und gedemütigt. Gleichzeitig hatte ich erfah- ren, dass er sich bei einem Freund sehr abfällig über mich geäußert hatte. Er hatte mich nur benutzt. Ich fühlte mich wie ein Stück Dreck. T: So viel Schmutz und Ekliges, das ganz plötzlich in Ihr Leben eingedrungen ist

 

P: Ja, ich war völlig am Boden, am liebsten wäre ich gestorben. T: Wir wissen ja, wie es weiterging. Sie lebten weiter und dann kam der Zwang

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

P: Ja, wie mit zwölf. Plötzlich fand ich die ganze Welt wieder dreckig. Ich fing wieder an, alles nach Flecken und nach allem möglichen Dreck abzusuchen. T: Und alles roch nur noch nach Urin und nach Kot, und Sie mussten s dagegen ankämpfen nach den unmenschlichen Regeln des Zwanges. P: Ja, es war so widerwärtig. T: War die Welt wirklich anders geworden, oder erlebten Sie sie nur anders? ständig

 

P: Ja, ich weiß, in Wahrheit hat sie sich nicht verändert. Ich habe mich nur anders darin gefühlt, ohne Boden unter den Füßen, allem ausgeliefert. P: Ich weiß, Sie haben es mir erklärt. Meine inneren Gefühle haben T: Und was war der Auslöser? sich

 

sozusagen auf die Welt draußen verlagert. T: Und wer ist der wahre Adressat dieser Gefühle?

 

P: Ich weiß, es ist das, was er mir angetan hat. (fängt an zu weinen) Ich denke daran, wie er mich geschlagen hat. Ich spüre wieder diese Einsamkeit. T: Ich weiß, es tut weh, aber versuchen Sie bitte den Gedanken und das Ge- fühl zu halten, nicht wegdrücken.

 

P: (schweigt) T: Wie geht es Ihnen jetzt? Hat sich etwas verändert?

 

P: Ich spüre langsam eine maßlose Wut in mir hochkommen. Das Schwein hat zu meiner Freundin gesagt: „Wer so ist wie sie, muss reiche Eltern haben. Aber ich bin nicht mehr käuflich". Dreckskerl.

 

T:... P: Gehen wir. Ich will noch einmal mit Ihnen darüber reden. Ich muss endlich

 

aus alledem herauskommen.

 

T: Was ist mit dem Briefkasten? P: (knallt ihn zu) Scheiß Briefkasten!

 

Therapeutische Arbeit mit Gefühlsintrusionen

 

Spontan entstehende intensive Gefühle sollen nicht unterdrückt werden, son- dern sollen zur Entfaltung kommen. Dann wird der Therapeut bemüht sein, sie in den richtigen biografischen Zusammenhang zu stellen.

 

Gefühle gezielt provozieren. Es ist auch möglich, solche Gefühle gezielt zu provozieren durch Fragen wie „Sie stehen jetzt hier vor dem Briefkasten. Erin- nern Sie sich an andere Episoden Ihres Lebens, wo Briefkästen oder Briefe eine Rolle gespielt haben!"

 

In dem Maße, wie die Gefühle wieder auf die Ebene zurückgebracht werden, zu der sie gehören, sollen sie angenommen", d.h. als gesunde Reaktionen auf persönliche Lebenskrisen und Konflikte erlebt werden. Sie stellen natürliche Reaktionen dar, im Gegensatz zu den zwanghaften „Deckgefühlen" wie Ekel und Angst, von denen sie meist überlagert werden.

 

Gefühle ihren Funktionen zuordnen. Im nächsten Schritt sollen die Gefühle wieder in ihrer natürlichen Funktion eingesetzt werden. Sie geben eine innere Stellungnahme zu Ereignissen wieder. (,,Das Verhalten meines Mannes mir ge- genüber war widerwärtig und hat mich maẞlos traurig gemacht.") Weiter signa- lisieren sie Intentionen. („Ich bin nun richtig wütend, ich muss mich von ihm trennen.") Sie sollen langfristig wieder in ihrer Hauptfunktion als Motor eines adäquaten Handelns eingesetzt werden. Diese therapeutische Arbeit, die mehr die Hintergründe des Zwanges betrifft, tritt im Laufe der Therapie zunehmend in den Vordergrund. Sie geschieht auch anhand von Material, das durch die Expositionen aktualisiert wird.

 

In dem Maße wie diese konfliktreichen inneren Geschehnisse in den Mit- telpunkt des Bewusstseins rücken, soll parallel dazu eine zunehmende Dis- tanzierung von den zwanghaften Symbolen, wie verseuchte Hausflure, ge- schehen. Sie treten allmählich wieder in den Hintergrund und werden immer mehr wieder zu normalen Gebrauchsgegenständen und banalen Örtlich- keiten.

 

8.3.11 Aktivierung eigener Wünsche und Bedürfnisse

 

In den gängigen Expositionstherapien wird das Augenmerk ausschließlich auf aversive Reaktionen gelegt, die sich im Lauf der Konfrontation mit bisher vermie- denen Reizen verringern sollen. Dadurch wird es mehr oder weniger dem Zufall überlassen, wann und in welchem Maße die positiven Anreize der Situation und die daraus resultierenden Bedürfnisse wieder ins Bewusstsein der Patienten rücken und dadurch die Funktion erhalten können, den Fremddiktaten des Zwanges bei der Verhaltenssteuerung sozusagen Konkurrenz zu machen.

 

Wir legen in unserem Ansatz viel Wert darauf, die alten, in verschiedene Lebenskontexte eingebetteten positiven Qualitäten im Hier und Jetzt wieder zu aktivieren. Es geht also nicht nur um eine Reduktion von Aversion, sondern auch um die aktive Herstellung eines neuen Wirklichkeitsbezuges und das Schaf- fen eines Anreizcharakters, wollen wir die Auswirkungen einer umfassenden, dauerhafte Veränderungen bewirkenden Expositionstherapie beschreiben. Denn nur dadurch können blockierte Bedürfnisse wieder zugänglicher gemacht wer- den und positive Gefühle, wie Erleichterung, Freude, Glück und Stolz, die oft in der Zwangserkrankung sehr abgeschwächt sind, wieder deutlicher erlebt werden In keiner Weise kommen wir dabei auf den Gedanken, dass eine solche Entwick

 

8.3 Gesamttherapieplan bei Berührungsvermeidungszwängen (Waschzwänge)

lung als ein Ausdruck von Vermeidung" angesehen werden sollte (Hofmann Wir haben bei unserer Darstellung der Verhaltenstherapie bei Waschzwan und Hoffmann, 1998; Hoffmann und Hofmann, 2002). gen wieder sehr stark die Expositionen in den Mittelpunkt gestellt, doch es

 

soll nicht übersehen werden, dass die bei den Kontrollzwängen als Punkt 3, 4

 

und 5 (s. 8.3.9) geschilderten Probleme unbedingt berücksichtigt werden müs

 

sen.

 

8.4

 

Schwierigkeiten und mögliche Fehler bei der Durchführung der Therapie

 

Gefühle übergehen Ein häufig anzutreffender Fehler ist auf den verfehlten Anspruch vieler Therapeu-

 

ten zurückzuführen, schnell und kompromisslos das durchführen zu wollen, was sie unter Verhaltenstherapie" verstehen. Nach einer Vorbereitung, die auch oft zu kurz und zu unvollständig ausfällt, sollen ,,Expositionen" durchgeführt werden, weil man ja nicht zum Plaudern zusammengekommen sei. Dieses übereilte Vor- preschen geschieht oft auch noch auf der Basis einer ungenügenden Kenntnis des Zwangssystems, oder es bestehen die üblichen Missverständnisse (z. B. „Alle Pati- enten mit Waschzwang haben Angst, sich anzustecken"). Der psychische Zustand der Patienten ist dann nicht von großem Interesse. Ihre Unsicherheiten und Be- fürchtungen (besonders auch dann, wenn sie anfangen, ihr Verhalten zu verän- dern) werden übergangen. Das große Risiko dabei ist, dass Patienten auf Misser- folge oder auf Beschuldigungen („Sie haben schon wieder vermieden") mit Mut- losigkeit, Selbstvorwürfen und sogar einer (dann therapiebedingten) Depression reagieren. Auch Expositionsverweigerungen und -abbrüche sind häufig das Ergeb- nis einer solchen unreflektierten Hast, gleich „loszulegen“.

 

Exposition mit Habituation gleichsetzen

 

Der Begriff Exposition wird von vielen Therapeuten quasi automatisch mit

 

Habituation assoziiert. Dadurch wird sehr häufig den Patienten eine durchweg

 

passive Haltung bei den Übungen nahe gelegt, die im schlimmsten Fall darin

 

besteht, ihnen zu sagen, sie mögen doch einfach in der Situation bleiben und

 

warten, bis die Angst vorbeigeht". Zur Motivierung zu Expositionen und

 

dadurch zur Zwangsbewältigung sollten im Gegenteil von vorneherein Instruk-

 

tionen eingeführt werden, die eine aktive Rolle des Patienten betonen. Sie

 

sollen lernen, sich wieder als steuernde Instanz des eigenen Verhaltens zu etab-

 

lieren und sich nicht nur wie bisher lediglich den Diktaten des Zwanges zu fü-

 

gen.

 

5 Berührungvermeidungswänge (Waschwänge)

Das Vermeiden" verteufeln

 

Auch mit der Tatsache, dass Patienten besonders am Anfang vor der Aversivität bestimmter Berührungen und ihrer vermeintlichen Konsequenzen (Kettenbil- dung!) zurückschrecken und zu Vermeidung neigen, wird zu undifferenziert umge- gangen. Zum einen wird den Patienten gegenüber behauptet, Vermeidung dürfe unter keinen Umständen stattfinden, weil sie die Störung verstärke und damit sich negativ auf den Therapieverlauf auswirke. Das ist falsch. Durch eine Mikroanalyse der Abläufe, die schließlich zur Vermeidung geführt haben, lassen sich wertvolle Informationen gewinnen (Genau an welcher Stelle ist die Entscheidung dazu gefal- len, wodurch genau?" usw.). Werden dann gezielte Hilfen abgesprochen, die der Patient bei der nächsten Gelegenheit ausprobieren kann (Jetzt gehen Sie wieder genau an die Stelle, wo Sie vorher waren, und probieren Sie aus, was wir bespro-

 

chen haben."), so lassen sich dauerhafte Veränderungen sehr gut in die Wege leiten. Durch eine therapeutisch verordnete Alles-oder-Nichts-Haltung („Aushalten ist gut, Vermeiden ist schlecht") wird auch jede innere Experimentierhaltung beim Patienten verhindert. Sie ist es, die ihm ermöglicht, erst seinen inneren und schließlich seinen äußeren Probierraum verlässlich und dauerhaft auszuweiten.

 

Abwehrmaßnahmen verbieten

 

Es wird oft vom Patienten vorschnell, d.h. von einem Moment zum anderen, verlangt, auf jegliches symptomatisches Abwehrverhalten, etwa in Form von Waschen, zu verzichten. Dieser oft praktisch nicht haltbare Anspruch wird dann meist mit dem Begriff „Reaktionsverhinderung" gerechtfertigt. Darin wird oft die einzig richtige VT-Strategie" gesehen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass es besser ist, den Abbau des Abwehrverhaltens mit kleinen Schritten anzugehen, als mit dem Kopf durch die Wand gehen zu wollen und dabei immer wieder an unerfüllbaren Forderungen zu scheitern.

 

Personen aus der Umwelt der Patienten, wie Eltern, Kinder oder Partner soll- ten nicht als „Überwacher" des Verhaltens von Patienten eingesetzt werden. Bei den häufig anzutreffenden Funktionalitäten, die Zwänge in einem Familiensys- tem haben, kann es bei einem solchen Versuch zu unkontrollierbaren Konse- quenzen kommen (vgl. Hand, 2002).

 

Gesamtsituation des Patienten nicht beachten

 

Therapeuten sind oft so vom „Primat" der Expositionstherapie als dem einzigen verhaltenstherapeutisch Wahren" überzeugt, dass sie andere unverzichtbare Komponenten eines psychotherapeutischen Prozesses geringschätzen und ver- nachlässigen. Auch bei der Verhaltenstherapie, die auf eine Eliminierung von Symptomen ausgerichtet ist, sind andere Anteile der Gesamtproblemlage des Patienten voll zu berücksichtigen. Dabei ist in erster Linie an diejenigen Proble

 

8.4 Schwierigkeiten und mögliche Fehler bei der Durchführung der Therapie

me und Konflikte zu denken, die nicht selten eine die Störung aufrechterhalten- de Funktion haben. Aber auch bei anderen Schwierigkeiten, die im Laufe einer Therapie auftreten, haben Patienten ein Anrecht auf engagierte und fundierte Hilfe. Patienten wollen nicht immer (wie es oft fälschlicherweise beklagt wird) ablenken und vermeiden, wenn sie spontan über Probleme und krisenhafte Ent. wicklungen sprechen wollen, die sich bei ihnen ereignen. Psychotherapeuten, auch Verhaltenstherapeuten sind nun einmal Lebensbegleiter auf Zeit (Hoff- mann, 1992), auch wenn dies nicht dazu führen darf, dass sie den Faden verlie ren und die Therapie sich zu verzetteln droht.

 

Expositionen, zu locker" angehen

 

Bislang haben wir eine Anzahl von Schwierigkeiten angesprochen, die sich hauptsächlich aus einer falschen, wenn auch gut gemeinten, Uberbetonung der Expositionstherapie ergeben. Aber auch eine gegenteilige Haltung kann von Übel sein. Oft werden Expositionen in Therapeutenbegleitung hauptsächlich deswe gen durchgeführt, weil sie lediglich eine Art Verpflichtung darstellen und eine willkommene Abwechslung vom therapeutischen Alltag sind. Sie sind dann nicht in einen strukturierten und folgerichtig aufgebauten Gesamttherapieplan einge- ordnet. Die Auswertung ist ungenügend und konsequenzlos, die Intervalle zwi- schen den einzelnen Sitzungen sind zu groß und das Ganze scheint recht kon- zeptlos über die Bühne zu gehen.

 

Wird der Patient allein in eine Exposition geschickt, so hat das meist die Funk- tion einer Beschäftigungstherapie, bestenfalls einer Hausaufgabe. Therapeuten können sich dann in dem Gefühl sonnen, Verhaltenstherapie zu praktizieren, aber der Impakt einer solchen Behandlung ist viel zu gering, um kumulative und dauerhafte Ergebnisse zu erzielen.

 

Verfassung des Patienten übersehen

 

In manchen Fällen ist die allgemeine psychische Verfassung der Patienten so schlecht, dass der Beginn von massiven Expositionsübungen aufgeschoben wer- den sollte. Haben sie schon begonnen und der Patient ist depressiv oder schwer erschöpft, so müssen sie unterbrochen werden. Ein Mensch in diesem Zustand bringt nicht die Motivation, die Konzentration oder gar die innere Ruhe auf, die notwendig wäre, um von gut durchdachten und anspruchsvollen Expositionen zu profitieren.

 

8.5

 

Wirkprinzipien der Therapie

 

Distanz zum Zwang

 

Sowohl bei mehr diagnostischen Expositionen, wie auch bei Interventionen wie „Dialog mit dem Zwang", aber vor allem bei den Expositionen 

Modell der Subjektkonstituierung wird eine zunehmende Distanz zum Zwangs- system geschaffen. (Diese ist nicht immer von Anfang an so groß, wie es oft falschlicherweise behauptet wird.) Er wird in zunehmendem Maße als etwas Fremdes, nicht zu mir Gehöriges entlarvt, gegen das immer mehr und stärkere Gefühle, wie Wut, Trotz, oder aber Gleichgültigkeit und Sättigung ent- stehen.

 

Stärkung der Persönlichkeit Die Übungen haben das Hauptziel, die Persönlichkeit der Patienten zu stärken und zur alleinigen Steuerinstanz zu etablieren. Dazu müssen ihre Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen aktiviert werden. Auch kognitive und volitionale Funktionen, wie Pläne generieren, Entschlüsse fassen und durchführen, werden systematisch geübt.

 

Betonung der Selbständigkeit

 

Mitspracherecht: Die Patienten werden von Anfang an in die Rolle der Entschei- denden gebracht. Sie haben ein großes Mitspracherecht bei dem, was jeweils getan wird. Therapeuten geben Anregungen, etwa über mögliche Expositions- situationen, oder über den Umgang mit bestimmten Schwierigkeiten. Sie werden vor allem ermutigen und helfen und für eine konsequente Arbeit sorgen, aber sie werden nicht darauf aus sein, etwa möglichst schnell Hierarchien abarbeiten zu lassen. Vor allem auch was die Häufigkeit und Massierung von Expositions- übungen anbelangt, haben Patienten ein Mitspracherecht. Mit einigen Patienten arbeiten wir zwei bis drei Wochen am Stück, zwei bis drei Stunden am Tag, an- dere kommen langsam in Gang. Es kommt dann am Anfang zu diagnostisch- therapeutischen Expositionen, bei denen die Patienten langsam Mut fassen und sich mehr zutrauen. Dann wird mit ihnen gemeinsam ein Plan für die nächste Zeit abgesprochen.

 

Therapeut als Hilfs-Ich: Therapeuten fungieren vor allem als Hilfs-Ich und nicht als eine fordernde Instanz, die dann auch eine Zwang und Druck ausüben- de Fremdsteuerungsinstanz ist. Damit wird die Autonomie des Patienten betont, was sich als förderlich für den Therapieerfolg erweist.

 

Keine Mutproben": Zwanghaftes Verhalten, wie exzessives Waschen, wird nicht per Dekret der Therapeuten oder unter ihrem Druck verboten. Patienten müssen jeweils ausloten, wie weit sie schon in der Lage sind, es zu unterlassen. Gefördert werden auf die Art nicht Mutproben, sondern innere Entwicklungen, Selbstvertrauen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Es geht letztlich darum, eine hohe innere Spannkraft beim Handeln in kritischen Situationen des Lebens aufzubauen.

 

8.5 Wirkprinzipien der Therapie

 

Betonung der inneren Haltung

 

vor jemandem, der Vor jeder Exposition ist von den Patienten immer eine bestimmte innere Einstel lung herzustellen, die im Laufe der Übung, besonders bei zwanghaften Intrusio von nen, aufrechterhalten oder möglichst noch gesteigert werden soll. Patienten müssen das Einnehmen dieser Haltung meist erst erlernen. Dies geschieht v allem auch bei den ersten Expositionen. Es ist die Haltung v eine konkrete und für ihn überschaubare Wirklichkeit herstellen kann, in der er immer freier und von den eigenen Bedürfnissen geleitet agiert.

 

Indikation

 

Unsere Vorgehensweise scheint insbesondere bei ängstlichen und zu Entmuti- gung neigenden Patienten indiziert, die am Anfang sehr wenig zu drastischen Veränderungen zu motivieren sind. Wir haben auch gute Erfahrungen bei sol- chen, die eine geringe innere Distanz zu einigen ihrer überwertigen zwanghaften Ideen haben und diese Distanz erst im Laufe der Therapie aufbauen müssen. Auch solche, bei denen am Anfang ständig neue zwanghafte Angste und Beden- ken auftreten, können lernen, zunehmend selbständig mit ihnen umzugehen.

 

Berührungvermeidungszwänge (Waschzwänge)

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